Ein Projektseminar mit Bachelor- und Masterstudierenden im Wintersemester 2016/2017
Kategorie: Institutionalisierung / Institut / Institute
Die Hamburger Universität ist mit ihren bald 100 Jahren noch relativ jung (Jubiläumsjahr 2019; s. a. Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte); die Geschichte der Musikwissenschaft an dieser Universität immerhin beinahe genauso alt. Heute ist die Universität Hamburg mit fünf Professuren, 23 wissenschaftlichen MitarbeiterInnen (Stand Dezember 2016) und zahlreichen weiteren KollegInnen in Lehre und Verwaltung einer der größten Musikwissenschaft-Standpunkte in Deutschland. Er wurde 2013 in zwei eigenständige Institute gegliedert: Das Institut für Historische Musikwissenschaft und das Institut für Systematische Musikwissenschaft.
Doch aller Anfang ist schwer. Auch in Hamburg brauchte es zunächst 30 Jahre bis zur offiziellen Institutsgründung 1949. Die folgenden Beiträge beleuchten einzelne Stationen des langen Weges bis zur Gründung sowie weitere institutionelle Entwicklungen mit ihren Auswirkungen auf die hiesige Forschung und Lehre.
Der folgende Text nimmt Sie mit auf die Entwicklungsreise der Musikwissenschaft in Hamburg. Diese Reise verlief keineswegs geradlinig. Sie dauerte rund 40 Jahre, bevor sie in der Gründung des Musikwissenschaftlichen Instituts im Jahr 1949 ein erstes Ziel erreichte. Auf dem Weg dorthin waren verschiedene Stationen von besonderer Bedeutung. Begonnen werden muss beim Hamburger Kolonialinstitut, welches bereits rund 10 Jahre vor der Universitätsgründung 1919 bestand. An diesem Institut entstand 1910 das Phonetische Laboratorium, wo neben der Sprachforschung auch Klangforschung betrieben wurde. Später beinhaltete das Laboratorium sogar eine separate Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft. Seit Universitätsgründung gab es musikalische Übungen, aus denen schließlich das Universitäts-Musikinstitut hervorging, welches im Jahr 1947 mit der Forschungsabteilung zusammengefasst wurde. Zwei Jahre später, im Jahr 1949 wurde dann das Musikwissenschaftliche Institut an der Universität Hamburg gegründet. Diese Stationen auf dem Weg zur Institutionalisierung der Musikwissenschaft in Hamburg werden in den nächsten Abschnitten genauer beleuchtet. Kommen Sie also mit auf die Reise der Hamburger Musikwissenschaft und entdecken Sie, wie alles begann!
Die Zeit vor der Universität in Hamburg: Kolonialinstitut und Allgemeines Vorlesungswesen
Mitte des 18. Jahrhunderts begannen im Deutschen Reich Kolonisierungsbestrebungen. Den anderen Kolonialmächten nacheifernd, hatte das Deutsche Reich Anfang des 19. Jahrhunderts zahlreiche Kolonien.1 Mit der wachsenden Bedeutung der Kolonien wuchs auch der Wunsch nach einer besseren Ausbildung der Kolonialbeamten.2Bernhard Dernburg, Staatssekretär des Reichskolonialamts, informierte den damaligen Bürgermeister Hamburgs, Dr. Johann Heinrich Burchard, im April 1907 darüber, „dass es in der Absicht des Reiches läge, für die kolonialen Wissenschaften einen Lehrstuhl […] mit ordentlichen Professuren zu errichten.“3Der Hamburger Ethnologe Georg Thilenius verhandelte erfolgreich mit Dernburg, welcher in einem Schreiben an den Senat betonte, Hamburg sei „der geeignete Platz für die Vorbildung von Privatpersonen wie Beamten für eine Tätigkeit in den Kolonien.“4
Am 6. April 1908 wurde die Errichtung eines Kolonialinstituts in Hamburg vom Senat in Übereinstimmung mit der Bürgerschaft beschlossen und als Gesetz verkündet.5 In den folgenden Jahren wurden im Hamburger Kolonialinstitut Kolonialbeamte, Kaufleute, Landwirte und Missionare ausgebildet. Auf dem Lehrplan standen neben praxisorientierten Themen (Tropenhygiene, Tierzucht, Segeln) die Landes- und Völkerkunde, Missionskunde, Naturwissenschaften, Geschichte, Rechts- und Staatswissenschaft sowie Sprachkurse.6 Kurse zum Thema Musik sucht man auf dem Lehrplan des Kolonialinstituts vergeblich. Dennoch ist es eine wichtige Stufe auf dem Weg zur Institutionalisierung der Musikwissenschaft in Hamburg. Denn der Afrikanist Professor Carl Meinhof, der das Seminar für Kolonialsprachen leitete, forderte die Einrichtung einer phonetischen Forschungsabteilung, um die Sprachen und Laute der kolonialen Völker besser erforschen zu können. Damit war der Grundstein für das Phonetische Laboratorium gelegt, welches 1910 gegründet wurde und seinerseits als ein Entstehungsort der Musikwissenschaft in Hamburg gelten kann.7
Gleichzeitig mit den Kursen des Kolonialinstituts wurden im Rahmen des Allgemeinen Vorlesungswesens vereinzelt Vorlesungen zum Thema Musik gehalten. Doch diese waren inhaltlich sehr begrenzt. In den Jahren 1908–1919 gab es lediglich Vorlesungen zu verschiedenen Werken von Richard Wagner.8Während des ersten Weltkriegs nahmen die Studenten- und Dozentenzahlen dann drastisch ab. Schließlich verlor das Kolonialinstitut nach dem Krieg und der Auflösung der Kolonien gänzlich seine Bedeutung. Die verbliebenen Lehrveranstaltungen, Studenten und Dozenten des Kolonialinstituts wurden in die 1919 gegründete Universität Hamburgs eingegliedert.9
Das Phonetische Laboratorium
Am 1. Oktober 1910, nur ein Jahr nach Meinhofs Ernennung zum Professor, nahm das Phonetische Laboratorium seine Arbeit unter der Leitung von Dr. Giulio Panconcelli-Calzia auf (s. Abb. 1).10 Dieser war zuvor Leiter des Phonetischen Kabinetts in Marburg gewesen und verfügte sowohl über Erfahrung als auch über Tatkraft.9
Im Hamburger Phonetischen Laboratorium wurden im Folgenden mit diversen Apparaturen Lautstärken, Lautformen, Sprachklänge und Schallschwingungen aufgezeichnet. Außerdem befasste sich das Labor mit den physischen Vorgängen beim Sprechen. Für Menschen mit Stimm- oder Sprachfehlern war eine Stimm- und Sprechberatungsstelle eingerichtet.11 Auch musikalische Themen, vor allem im Hinblick auf die überseeischen Kolonialvölker, rückten ins Blickfeld.
Panconcelli-Calzia selbst hielt neben seinen Forschungstätigkeiten zahlreiche Kurse, beispielsweise eine Einführung in die allgemeine Phonetik, ein phonetisches Praktikum und eine Übung zum selbstständigen phonetischen Arbeiten. Spezielle Berücksichtigung fanden dabei die afrikanischen Sprachen.12 Ab dem Wintersemester 1916/17 unterstützte Wilhelm Heinitz (s. Beitrag zu Heinitz’ „Etablierung eines neuen Forschungszweiges“) die phonetischen Praktika, die Panconcelli-Calzia anbot.13 Heinitz begann als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Phonetischen Laboratorium, war ab 1930 als Privatdozent und ab 1933 als Professor tätig.14 Er beschäftigte sich während seiner Tätigkeit vermehrt und später ausschließlich mit der Vergleichenden Musikwissenschaft. Diese untersucht Musik, Gesänge und Tonträger verschiedener Völker und Länder und stellt zu ethnographischen Zwecken Vergleiche an.15 Das Phonetische Laboratorium verfügte so bald über eine eigene Schallplattensammlung, welche dem Zweck diente, Sprache und Musik fremder Völker zu erforschen.16
Der erste Weltkrieg veränderte den Arbeitsalltag des Labors drastisch. Hatte die kurative Behandlung von Sprachstörungen zuvor nur einen geringen Anteil eingenommen, so beschäftigten sich Panconcelli-Calzia und seine Mitarbeiter nun verstärkt mit der Sprachheilbehandlung kriegsgeschädigter Soldaten.17 1916 entstand sogar eine Außenstelle des Phonetischen Laboratoriums auf dem Gelände eines Hamburger Krankenhauses. Dort behandelten Phonetiker und Ärzte gemeinsam die durch den Krieg verursachten Sprach-, Sprech- und Hörstörungen.9
Panconcelli-Calzia selbst geriet während des ersten Weltkrieges in den Verdacht, ein italienischer Spion zu sein und im Laboratorium „Abhorchmaschinen“ zu bauen und zu verwenden.18 In einem Brief an das Präsidium der Verkehrstechnischen Prüfungskommission trat Bürgermeister Werner von Melle für Panconcelli-Calzia ein und beschrieb ihn als deutschen Untertan und Hamburger Staatsbeamten, welcher entgegen der Vorwürfe kein italienischer Ingenieurs-Spion, sondern Philologe sei.19 Dank des Einsatzes von Werner von Melle wurde Panconcelli-Calzia entlastet und leitete das Phonetische Laboratorium bis 1949. Nach beinahe 40 Jahren Dienst übergab er die Leitung und seinen Lehrstuhl für Phonetik an seinen Schüler Dr. Otto von Essen.20
Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft
Im Oktober 1934 stellte der Leiter des Phonetischen Laboratoriums Panconcelli-Calzia bei der Landesunterrichtsbehörde den Antrag, das Seminar für Vergleichende Musikwissenschaft offiziell zu verselbstständigen.21 Dem Antrag wurde entsprochen; die „Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft“ unter der Leitung von dem mittlerweile habilitierten Heinitz wurde eingerichtet.22 Nachstehend erhalten Sie einen Überblick über die Themen einiger Vorlesungen, die Heinitz ab 1920 in Hamburg hielt:23
• Die Entstehung der Instrumentalmusik und ihre Beziehungen zur Musik der Naturvölker
• Subjektive und objektive Bestimmung der Tonhöhenbewegung in der gesprochenen Sprache
• Vokalmusik bei Naturvölkern und Europäern
• Anwendung experimentalphonetischer Methoden auf die Vergleichende Musikwissenschaft
• Beurteilung musikalischer Linienführung
• Musikalische Akustik
• Skandinavische Volksmusik
• Musikalische Begabung
• Transkription der Musik anderer Völker
• Tonsysteme außereuropäischer Musikkulturen
Diese Auflistung gibt einen guten Überblick über die vielfältigen Themengebiete, in denen Heinitz nicht nur lehrte, sondern auch forschte. Schließlich wurde die Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft im Jahr 1947 auf Antrag Panconcelli-Calzias vom Phonetischen Laboratorium getrennt und an das ebenfalls 1934 entstandene Universitäts-Musik-Institut angegliedert.24
Das Universitäts-Musik-Institut – die Bedeutung der Musikwissenschaft nimmt zu
„An der Hamburgischen Universität ist mit Wirkung vom 1. November d. J. ein ‚Universitäts-Musik-Institut‘ errichtet worden.“25 Dieser Satz war im November 1934 im Hamburger Tageblatt zu lesen. Zuvor hatte Dr. Hans Hoffmann als Dozent für Musiktheorie und Musikpflege in begrenzten Räumlichkeiten und ohne eigenen Finanzetat gewirkt26 sowie den Studentenchor und das Studentenorchester geleitet.27Hoffmanns Wunsch nach einem eigenen Seminarraum fügte der damalige Universitätsrektor Adolf Rein in einem Schreiben an die Landesunterrichtsbehörde die Bitte um eigene Finanzmittel hinzu.26 Wenig später genehmigte der Hamburger Senat die offizielle Gründung des ‚Universitäts-Musik-Instituts‘ unter der Leitung von Hoffmann.28
Das Musik-Institut beschäftigte sich mit Chor- und Instrumentalpraxis, vermittelte aber auch musikhistorische und musiktheoretische Inhalte. Die musikgeschichtlichen Vorlesungen konzentrierten sich dabei zumeist auf Frühbarock, Klassik und Moderne. Zur Musiktheorie hielt Hoffmann unter anderem Vorlesungen über Kontrapunkt, Kanon, Fuge und Generalbass. In der Zeit des nationalsozialistischen Regimes übernahm das Institut außerdem die Aufgabe, Singleiter der Schutzstaffel (SS) durch Volksliedübungen auszubilden. Auch Mannschaftssingen und Volksliedsingen für alle Studierenden standen auf dem Lehrplan.27
Sechs Jahre nach Gründung des Instituts erfolgte eine weitere richtungsweisende Veränderung. Das Universitäts-Musikinstitut wurde an die Philosophische Fakultät angegliedert.29 Bemerkenswert ist dabei das Schreiben des Rektors Wilhelm Gundert, welcher den Antrag begründete: „Es handelt sich dabei nur um eine Folgerung aus dem Umstand, dass die Musikwissenschaft nunmehr als gleichberechtigtes Fach in der Philosophischen Fakultät vertreten werden soll.“30 Gundert gab der Tätigkeit des Musik-Instituts als erster Funktionsträger den Titel „Musikwissenschaft“ und empfahl den Musikwissenschaftler Dr. Hans Joachim Therstappen als Leiter des Instituts. Damit begann die Bedeutung der Musikwissenschaft in Hamburg zu wachsen. Dem Antrag wurde am 21. März 1940 von der Staatsverwaltung zugestimmt – das Universitäts-Musik-Institut wurde unter der Leitung von Herrn Dr. Therstappen in die Philosophische Fakultät eingegliedert.29 Mit Therstappen hielten in den Folgejahren vermehrt musikhistorische Themen Einzug in den Universitätsalltag und diversifizierten die Musikwissenschaft in Hamburg weiter (s. Beitrag zu „Hans Joachim Therstappen“).31
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Durch den bereits erwähnten Zusammenschluss des Universitäts-Musik-Instituts mit der Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft 1947 entstand ein musikwissenschaftliches Institut, in dem sowohl historische als auch musiktheoretische, -soziologische und -psychologische Themen erforscht und gelehrt wurden. Die beschriebenen Institutionen und Personen trugen allesamt dazu bei, den Weg zur Institutionalisierung der Musikwissenschaft erfolgreich zu beenden. 1949 wurde dieses Ziel mit der offiziellen Gründung des Musikwissenschaftlichen Instituts in Hamburg erreicht.
Die Hamburger Musikwissenschaft war während der Jahre 1933 bis 1945 noch nicht offiziell institutionalisiert. Musikwissenschaftliche Forschung und Lehre wurden dennoch durch unterschiedliche Dozenten verschiedener Abteilungen und Institute vertreten, zudem herrschte ein häufiger Wechsel von Lehrbeauftragten. So kamen etwa Prof. Dr. Wilhelm Heinitz und Prof. Dr. Georg Anschütz, die zur Zeit des „Dritten Reichs“ fortlaufend musikwissenschaftliche Lehrveranstaltungen aus dem Bereich der Vergleichenden Musikwissenschaft, der Musikpsychologie und der Musikästhetik abhielten,32 ursprünglich nicht aus dem Fach der Musikwissenschaft (s. Beitrag „Wie alles begann“). Besonders die Historische Musikwissenschaft war in den Anfangsjahren der Universität noch wenig vertreten und begann sich erst mit der Gründung eines eigenständigen Universitäts-Musikinstituts 1934 zu verstetigen.33 Auf die in dieser Hinsicht prägende Arbeit seines Leiters Hans Joachim Therstappen soll im Folgenden näher eingegangen werden.
Therstappens Vorgänger und die Historische Musikwissenschaft
Die zur Historischen Musikwissenschaft gehörenden Bereiche der Musikgeschichte und -theorie wurden an der Universität Hamburg in erster Linie durch Lehraufträge abgedeckt. Hier ist beispielsweise Dr. Walther Vetter zu nennen, der im Zeitraum von 1929 bis 1934 mehrere Veranstaltungen unter anderem zur Musikgeschichte der Antike, des 18. und 19. Jahrhunderts anbot. Darüber hinaus hielt er auch eine Einführung zur Musikwissenschaft sowie beispielsweise Vorlesungen und Übungen zu Bach, Beethoven, Wagner und zur Geschichte der Klaviermusik.34 Neben Vetter wirkte während der Jahre 1923 bis 1933 der Komponist und Musikkritiker Robert Gerson Müller-Hartmann. Sein Schwerpunkt war vor allem die Musiktheorie: Er hielt Veranstaltungen zur Harmonielehre, Formlehre und Kontrapunkt sowie zu Liedern von Schubert bis Hugo Wolf.35 Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er jedoch noch vor dem Sommersemester 1933 entlassen.36 Ihm folgte zum Wintersemester 1934/1935 Hans Hoffmann. Hoffman deckte wie Müller-Hartmann vorwiegend den Bereich der Musiktheorie ab. Neben zahlreichen Übungen zum Partitur- und Generalbassspiel sowie zum Volkslied, zur Analyse von Musikwerken, Harmonie- und Formlehre, ist den Vorlesungsverzeichnissen zu entnehmen, dass er auch Veranstaltungen zur Musikgeschichte hielt – beispielsweise zu Bachs Wohltemperiertem Klavier oder zur Stilkunde und Aufführungspraxis älterer Musik.37
Nachdem Vetter die Universität zum Sommersemester 1935 verließ, verringerten sich vom Sommersemester 1935 bis zum Wintersemester 1936/1937 die musikgeschichtlichen Veranstaltungen, die derzeit von Hoffmann geleitet wurden.38 Hoffmann zog 1936 ein künstlerisches Engagement nach Bielefeld.39 In den folgenden Semestern sind in den Vorlesungsverzeichnissen lediglich ein paar Übungen beispielsweise zur Satzlehre, Formlehre und Generalpassspiel aufgeführt, für die im Vorlesungsverzeichnis noch kein Dozent bekannt gegeben wurde.40 Erst im Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester 1937 war Therstappen als Dozent eingetragen.41 Im Sommersemester sowie im Wintersemester 1937/38 hielt er zunächst nur wenige Veranstaltungen zur Musikgeschichte, darunter eine zu Buxtehude, zur Geschichte der Hamburgischen Musik sowie zur Allgemeinen Musiklehre. Es folgten viele weitere Vorlesungen und Übungen, sodass Therstappen bald ein breites Spektrum der Musikgeschichte abdeckte. Die deutsche Oper des 18. Jahrhunderts, Johann Sebastian Bach, Mozart, Johannes Brahms, die Geschichte der Musik seit Beethoven, Musikgeschichte der Romantik, Heinrich Schütz, die Streichquartette Joseph Haydns, Frühgeschichte der Sinfonie, die Sinfonie Joseph Haydns, Musikgeschichte des Mittelalters, Franz Schubert, Orlando di Lasso, die Moderne42 – um nur einige seiner Themengebiete zu nennen.
Exkurs: Ein kurzer Einblick in den Werdegang Therstappens
Der am 1. August 1905 geborene Bremer erhielt noch zu Schulzeiten Musikunterricht in Klavier, Orgel, Violoncello und Musiktheorie. 1924 ging er zunächst an die Universität München. Dort sowie in Leipzig und Kiel besuchte er bis 1930 musikwissenschaftliche Veranstaltungen, hörte Vorlesungen über deutsche Sprache und Literatur und widmete sich weiterhin seiner praktischen musikalischen Ausbildung, sodass er ebenso als Klavier- und Cembalospieler sowie als Komponist qualifiziert war. Er schloss seine Studien mit einer Dissertation zur Entwicklung der Form bei Schubert ab.43 An der Universität Kiel stellte man ihn 1930 als planmäßigen Lektor für Musik an, bis er 1936 schließlich zum Leiter des Musik-Institutes an der Hansischen Universität sowie 1945 zum außerplanmäßigen Professor in Hamburg ernannt wurde.44
Therstappen und das Musik-Institut
Therstappen deckte am Musik-Institut in Hamburg ab dem Wintersemester 1936/1937 die Bereiche der Musikgeschichte, Musiktheorie sowie die akademische Musikpflege ab. Neben den genannten musikgeschichtlichen Vorlesungen kamen Übungen zum Kontrapunkt sowie der Satz- und Harmonielehre hinzu. Als Beauftragter der akademischen Musikpflege leitete er zudem den Studentenchor und das Studentenorchester. Nachdem Therstappen an der Hamburger Universität zunächst nur einen Lehrauftrag besaß, habilitierte er sich 1939 mit der Schrift Die Londoner Sinfonien Joseph Haydns. Studien zur Formgestaltung der deutschen Klassik aus Kiel um und wurde schließlich am 23. November 1939 zum Dozenten ernannt.45 Zwar wurden Bedenken geäußert, Therstappen sei „Spezialist […] und im Hinblick auf seine Tätigkeit als Musikkritiker wahrscheinlich nicht in erster Linie Dozent“,46 wie es im Protokoll der Fakultätsratssitzung vom 23. November 1939 heißt. Diesbezüglich entgegenete Prof. Dr. Fritz Jäger in einer Stellungnahme zum Antrag Therstappens auf Verleihung der Lehrbefugnis indirekt: „Die Fakultät ist überzeugt, dass die Zulassung Dr. Therstappens als Dozent für Musikwissenschaft vollauf gerechtfertigt ist und eine bisher schmerzlich empfundene Lücke in unserem Unterrichtsbetrieb auszufüllen ist.“ Außerdem lobt er Therstappens Lehrprobe zum Thema „Die Musikkultur des deutschen Barock“, in der er eine „erschöpfende Sachkenntnis“ sowie „die Befähigung […], sich fliessend und verständlich auszudrücken“ bewiesen habe. Auch Therstappens Habilitationsschrift bezeichnet er „als eine bedeutsame, nach Methode und Zielsetzung durchaus selbstständige und in ihren Ergebnissen überzeugende wissenschaftliche Leistung.“47
Mit Therstappen als beamteten Dozenten wuchs die Historische Musikwissenschaft als Disziplin an der Universität Hamburg, was zum Beispiel daran sichtbar wird, dass Therstappen jedes Semester Vorlesungen zu unterschiedlichen Bereichen der Musikgeschichte hielt.48 Neben seinen großen Schriften verfasste er diverse Aufsätze zu den Themen Mozart, Beethoven, Reger (u.a.),49 die er ebenso in seinen Veranstaltungen diskutiert. Während seiner Zeit als Leiter regte er neun Dissertationen an.50 Im Jahre 1947 beantragte Therstappen die Umbenennung des Musik-Institutes in „Musikwissenschaftliches Institut“,51 das seinen Namen bis zur Trennung der Institute in Systematische und Historische Musikwissenschaft 2013 trug. Prof. Dr. Heinrich Husmann beschreibt in seinem Kondolenzbrief and die Philosophische Fakultät die Umbenennung des Instituts als
„eine[n] symbolische[n] Ausdruck der Tatsache, dass die Musikwissenschaft sich […] auch in Hamburg als voll wissenschaftliche historische Disziplin in den Kreis der übrigen Wissenschaften einfügte, einer Entwicklung, die mit ganz geringen Ausnahmen längst an allen deutschen Universitäten vollzogen war. Und hierin ist wohl überhaupt das grösste Verdienst von Prof. Therstappen zu sehen, er hat der Hamburgischen Universität aus einem dem praktischen Musizieren der Studenten aller Fakultäten dienenden Institut, […] ein vollgültiges, von echt wissenschaftlichem Geist getragenes, die modernsten stilkritischen und philologisch-historischen Methoden anwendendes Institut entwickelt.“52
Therstappens Position während des Zweiten Weltkrieges
Auch Therstappens Stellung zur NS-Führung ist, wie die vieler seiner Kollegen, äußerst schwierig zu beurteilen. 1938 wurde ihm bescheinigt, dass er in der NSDAP als „ordentliches Mitglied geführt“ wird.53 Selbst wenn den Vorlesungsverzeichnissen entnommen werden kann, dass Therstappen auch während des Krieges weiterhin musikgeschichtliche Veranstaltungen hielt – die wie zuvor Themen wie Mozart, Schubert usw. behandelten54 – lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen, ob seine Lehrveranstaltungen von ideologischem Gedankengut geprägt waren. Bereits zum Sommersemester 1936 wurden Übungen zum „Mannschaftssingen“, „Allgemeinen Volksliedsingen“, „Volksliedübungen für Singleiter“ der SA, SS, BDM und HJ in den Vorlesungsverzeichnissen aufgenommen, die Therstappen seinerzeit fortführte.55 Mögliche ideologische Ziele und Gedanken Therstappens bei der Übernahme dieser Pflichtkurse lassen sich aus heutiger Sicht nicht mehr rekonstruieren. Unter seinen Schriften dieser Zeit sind hingegen zwei Aufsätze – „Stammhafte Züge in der deutschen klassischen Musik“ und „Beethoven und die Gegenwart“ – die 1941/1942 in der Völkischen Musikerziehung erschienen, als linientreu deutbar.56 Er verwendet hier Wortwendungen wie den „[…] sieghaft deutsche[n] Charakter in Haydns Musik, der sich über die Welt ausbreiten sollte […]“, „Mozarts Drang nach der Schöpfung einer national-deutschen Oper […]“57 und auch dem Zitat „Seid umschlungen Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt“ aus Beethovens 9. Symphonie fügt er den Gedanken hinzu: „In dieser umfassenden Gebärde fühlen wir uns heute noch umfangen und einbezogen. Wir spüren mit Erschütterung, wie sehr der Musiker Beethoven noch unsere eigene Sache vertritt.“58 Eine Bewertung, inwieweit solche Formulierungen in dem entsprechenden Publikationsorgan verpflichtend waren, ob also Überzeugung oder inwieweit „lediglich“ Mitläufertum hinter ihnen stehen, kann hier nicht abschließend erfolgen.
Als er im September 1940 in den Krieg eingezogen wurde, gab er sich zunächst mindestens dienstpflichtig. So schrieb er in seinem „Gruß an die Hansische Universität“: „Aber wie uns allen ein Gedanke gemeinsam ist: Der Gedanke der Pflichterfüllung für Volk und Führer, wie uns allen ein Ziel vor Augen steht: Der volle Sieg über unseren Gegner […]. Es wird darum gehen, für jeden von uns, mitzuhelfen an einer geistigen und politischen Neuordnung der Welt, die über Europa hinausreicht.“59
An der Front zog sich Therstappen eine schwere Enzephalitis (Gehirnentzündung) zu, die ihn zunächst arbeitsunfähig werden ließ.60 1945 äußerte Therstappen sich in einem Brief an den Dekan August Klingenheben, dass sich sein Gesundheitszustand verbessert habe und er im kommenden Semester wieder Vorlesungen und Übungen sowie die Leitung des Musikinstituts übernehmen könne.61 Sein Zustand verschlechterte sich jedoch weiterhin, sodass Therstappen noch 1949, also im Alter von 43 Jahren, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde.62 Er erlag den Folgen des Krieges und starb am 28. März 1950.63 Das Nachwirken seiner Person ist unter anderem an den vielen Kondolenzschreiben anderer Universitäten – darunter die Christian-Albrechts-Universität Kiel, Universität Leipzig, Technische Hochschule München, Universität München und die Freie Universität Berlin – zu erkennen, die nach seinem Tod eingingen.64
Die Musikwissenschaft trat und tritt in der Lehrtradition deutscher Universitäten häufig als Einheit auf. Guido Adler hingegen stellte bereits 1885 die Musikwissenschaft als Fachgebiet dar, welches sich auf zwei Säulen stützt, der Historischen und Systematischen Musikwissenschaft.65 Obwohl alle Teilbereiche die wissenschaftlich-theoretische Beschäftigung mit Musik im Fokus haben, passiert dies doch mit je ganz eigenen Schwerpunkten, Blickwinkeln und Methoden.
Das Musikwissenschaftliche Institut in Hamburg erkannte bereits 1970 die Entwicklung der Fachzweige hin „zu eigenen Disziplinen mit besonderen Forschungsmethoden“. Obwohl es damals einen historischen Fokus in der Hamburger Musikwissenschaft gab, interessierten sich die Studierenden anhaltend auch für deren systematischen Aspekte.66Dieser Wissbegierde konnte zwar nachgegangen werden, allerdings nur in ergänzender Arbeit zum historischen Fokus des Studiengangs. Das damals schmalere Lehrangebot in der Systematik schränkte dabei die Möglichkeiten ein. Außerdem erforderte der „große stoffliche Umfang“ beider Gebiete einen großen Mehraufwand.66
Dies machte aus Sicht des damaligen Lehrkörpers eine Teilung des Studiengangs Musikwissenschaft in die beiden getrennten Studiengänge Historische und Systematische Musikwissenschaft notwendig. Doch wie konnte eine solche Teilung umgesetzt werden? Der nachfolgende Text widmet sich im ersten Abschnitt in zeitlich chronologischer Abfolge den formal notwendigen Schritten der Teilung (s. Abb. 1 & 267). Es folgt eine Darstellung der inhaltlichen Entwicklung der Studienordnungen vor, während und nach der Aufspaltung, bevor ein detaillierter Blick auf konkrete Studieninhalte geworfen wird. Hier soll die Entwicklung der Lehrinhalte vor und nach der Studiengangstrennung und die Rolle der Lehrpersonen im Fokus stehen.
Spurensuche im bürokratischen Labyrinth – Ablauf der Studiengangsteilung
Ein Protokoll des Institutsrats des Musikwissenschaftlichen Instituts vom 3. März 1970 dokumentierte zum ersten Mal den Plan, die Systematische Musikwissenschaft zu verselbständigen (s. Abb. 368). In Folge eines einstimmigen Beschlusses im Institutsrat sendete Prof. Dr. Georg von Dadelsen als geschäftsführender Direktor am 25. Mai 1970 den ersten Antrag zur Teilung der Studiengänge an den Fachbereichsrat Kulturgeschichte und Kulturkunde.69 Wegen mangelnder Fortschritte in der Antragsstellung bis Ende Oktober 1970 sollte von Dadelsen im Auftrag des Institutsrats die Teilung durch ein Schreiben an den Fachbereich beschleunigen und auf Bedenken aus anderen Fachbereichen eingehen.70 Jedoch bewirkten weder der Antrag vom Mai 1970 noch das Schreiben vom Oktober 1970 eine Reaktion des eigenen Fachbereichs zum Stand der Dinge. Aus diesem Grund wollte der Institutsrat Anfang Juli 1971 erneut schriftlich beim Fachbereichsrat die Lage erfragen und klären, ob es neue Stellungnahmen zum Antrag aus den anderen Fachbereichen gäbe. Kurz vor Weihnachten 1971 berichtete dann der neue kommissarische geschäftsführende Direktor Prof. Dr. Constantin Floros, dass der Prozess nach wie vor durch ausstehende Äußerungen und Bedenken aus anderen Fachbereichen verzögert würde. Deshalb wollte man sich Ende April 1972 mit den Vorsitzenden des gemeinsamen Ausschusses der Fachbereiche zusammensetzen. Erst Ende April 1973 stimmte der Fachbereich Kulturgeschichte und Kulturkunde in Abstimmung mit den anderen Fachbereichen dem Antrag zur Teilung der Studiengänge schließlich zu.
Die nächste Instanz, der Senatsausschuss für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs,71 lehnte den Antrag im Januar 1974 jedoch ab.72 Wiederum ein neuer Antrag des Institutsrats sollte die Argumente des Ausschusses entkräften. Zudem wurde darum gebeten, Dr. Peter Petersen als Vertreter der Musikwissenschaft zur relevanten Sitzung des Ausschusses einzuladen.73 Durch diese Maßnahmen stimmte der Akademische Senat schließlich am 2. Dezember 1974 der Teilung des Studiengangs Musikwissenschaft in die beiden Studiengänge Historische und Systematische Musikwissenschaft zu.
Nach der Darstellung der notwendigen rechtlichen und bürokratischen Schritte für die Einführung des eigenen Studiengangs Systematische Musikwissenschaft soll nun die Entwicklung der groben inhaltlich-strukturellen Aspekte der Teilung erläutert werden.
Emanzipation der Systematischen Musikwissenschaft in der Studienordnung
Eine Studienordnung bildet das Gerüst eines Studiengangs. Sie beinhaltet Aufnahmekriterien, eine empfohlene oder vorgegebene Studienstruktur und liefert den groben inhaltlichen Rahmen – zumindest seit 1969. Vorher wurden inhaltliche und strukturelle Vorgaben meist mündlich oder in sogenannten Studienführern, kleinen Merkheften für Studierende mit Informationen rund um die Universität, weitergegeben.74
Im Studienführer von 1967 schrieb von Dadelsen ganz klar, dass der Fokus des musikwissenschaftlichen Studiengangs auf der Musikgeschichte liege.75 Nach einem viersemestrigen Grundstudium mit Proseminaren beispielsweise zur „Geschichte des Instrumentalkonzerts“, „Übungen zur Motette um 1500“, „Übungen zu den Klavierwerken J. S. Bachs“ oder auch einer „Einführung in den gregorianischen Choral“,76 konnte bei erfolgreicher Zwischenprüfung zum viersemestrigen Hauptstudium übergegangen werden.77 Dessen Hauptveranstaltungsform, die Hauptseminare, boten u. a. „Ästhetik der Oper“, „Tropus und Sequenz“, „Rhythmische und harmonische Probleme der Musik seit 1900“ oder „Bachs Parodieverfahren“ an.76 Ergänzend erwarteten die Lehrenden von den Studierenden den Besuch von Vorlesungen und weiteren Seminaren,77 deren Inhalte von „Beethovens Streichquartett“ bis zur „Analyse ausgewählter Werke der atonalen Musik“ reichten.78Die Systematische Musikwissenschaft wurde hingegen nur als Spezialgebiet gepflegt und galt nicht als eigenes Prüfungsfach.75 Eine systematische Abschlussarbeit war indes möglich, diese Spezialisierung wurde aber erst nach dem Grundstudium empfohlen.77
Zwischen diesen Richtlinien vom Ende der 1960er Jahre und der ersten Studienordnung für die beiden getrennt studierbaren Fächer Historische und Systematische Musikwissenschaft im Wintersemester 1975/1976 zeigten verschiedene Entwürfe von Studienordnungen ein prozesshaftes Umdenken in der Fachauffassung. Die historische Sichtweise der 1960er Jahre auf die Musikwissenschaft wich bereits 1970, dem Jahr des ersten Teilungsantrags, einer immer gleichwertigeren Betrachtung der Fächerzweige.79 Dieses Umdenken zeigte sich einerseits im Umfang der Darstellung der Systematischen Musikwissenschaft (ein Absatz in der Studienordnung von 1966 im Vergleich zu einem eigenen Kapitel ab 1970). Andererseits erlaubten die inhaltlichen Vorgaben der Studienordnungsentwürfe nun nicht mehr nur vorrangig historische Themen, sondern ein Spektrum von einer geschichtlichen Betrachtung bis zu einer akustisch, physikalischen Sichtweise auf Musik.80 Nach der Bewilligung der beiden geteilten Studiengänge Historische und Systematische Musikwissenschaft im Dezember 1974 gipfelte diese Entwicklung in einer Studienordnung für das Wintersemester 1975/1976, die beide eigenständigen Fächer gleichberechtigt behandelte. Dabei waren sie nur noch durch eine Empfehlung zur gegenseitigen Nebenfachwahl verbunden.81
Inhaltlich sah man in diesen neuen Studienordnungen das Ziel der Historischen Musikwissenschaft darin, die „Musik der Vergangenheit und Gegenwart philologisch, historisch, theoretisch und analytisch zu erforschen“.81 Konkret umgesetzt wurde dies durch das Angebot von Veranstaltungen wie „Notationskunde“ I–III, „Werkanalyse“ I und II, Praktika mit Aufführungsversuchen älterer Musik und Proseminaren zur Gattungsgeschichte oder Stilkunde. In der Systematischen Musikwissenschaft hingegen fokussierte man sich weniger auf die Untersuchung von Musik aus geschichtlicher Perspektive, sondern mehr auf einen personen- und objektbezogenen Ansatz. Das Erkenntnisinteresse war hier, die „Gesetzmäßigkeiten des musikalischen Erlebens und Verhaltens sowie die darauf bezogenen Objektbereiche zu erforschen“.81 Den Kern bildeten jeweils eine Übung in Verbindung mit einem Praktikum in Methodenlehre, Musikpsychologie und musikalischer Akustik. Proseminare zu wichtigen Themen der Systematischen Musikwissenschaft ergänzten diese Grundlagen. Die in Hauptseminaren besprochenen ungelösten Forschungsthemen rundeten das Angebot zusammen mit Vorlesungen zu erschlossenen Themenkomplexen ab.
Klar ist nun, welche groben inhaltlichen und strukturellen Vorgaben die Studierenden vor und nach der Teilung hatten. Doch wie beeinflussten diese Veränderungen das Lehrangebot und in welcher Beziehung stand wiederum die Lehre mit der Personalsituation am Musikwissenschaftlichen Institut?
Auf dem Weg zur Gleichberechtigung – Die Entwicklung der Lehre in Systematischer und Historischer Musikwissenschaft
Ein Lehrangebot ist oft mit personellen Gegebenheiten an einem Institut verbunden. Durch die persönlichen Forschungsschwerpunkte der Dozenten entstehen meist auch thematische Kernpunkte in der Lehre. Das Lehrangebot verändert sich dabei quantitativ und qualitativ nicht plötzlich, sondern fließend. Abbildung 482 veranschaulicht einen solchen quantitativen Verlauf für das Musikwissenschaftliche Institut zwischen dem Sommersemester 1959 und 1982.
Der Blick zurück zum Anfang der 1950er Jahre zeigt ein noch schmales Lehrangebot mit v. a. historisch musikwissenschaftlichen Themen wie der „Einführung in die Musikgeschichte“83 oder „[der] ‚Klangrede’ bei Händel und Bach“. Dennoch gab Prof. Dr. Wilhelm Heinitz (s. Beitrag zu Heinitz’ „Etablierung eines neuen Forschungszweiges“) mit Lehrveranstaltungen zu „Takt und Rhythmus“83 oder „Musik und Bewegung“84 bereits Einblicke in die Systematische Musikwissenschaft. Mit einer Vorlesung „Einführung in die Akustik“ inkl. Übung, positionierte sich Dr. Hans-Peter Reinecke im Sommersemester 1955, dem Beginn seiner Lehrtätigkeit am Institut, wesentlich klarer in der Systematischen Musikwissenschaft und ermöglichte damit deren Etablierung in Hamburg.84 Bis in die 1970er Jahre vertrat v. a. Reinecke die Systematische Musikwissenschaft. Veranstaltungen waren beispielsweise die „Einführung in die Raumakustik“85 oder „Tonpsychologie und Musikpsychologie“86. Zudem bot er im Laufe der 1960er Jahre eine „Einführung in die systematische Musikwissenschaft“87, ein Praktikum zu „[a]kustischen Untersuchungen an Musikinstrumenten“88 und „Informationstheorie in der Musikwissenschaft“89 an.
Einen deutlich größeren Anteil bildete jedoch die Lehre der Historischen Musikwissenschaft. Hier stieg die Anzahl der Veranstaltungen merklich ab dem Sommersemester 1961, dem Beginn der Amtszeit von Georg von Dadelsen als geschäftsführender Direktor am Institut.90 Insbesondere zusätzliche Vorlesungen – thematische Beispiele sind hier „Richard Strauss“, „Alban Berg“ oder auch „Hamburg im Spiegel der allgemeinen Musikgeschichte“91 – verstärkten das bisherige Angebot der Proseminare und Seminare. Mit einem breiten Spektrum von mehreren Veranstaltungen zur allgemeinen Musikgeschichte und Grundfragen der Stilkunde, über Vorlesungen und Seminare zu einzelnen Komponisten, bis hin zu ganz speziellen Themen wie der „[m]ehrstimmige[n] Musik im 12. und 13. Jahrhundert“ bot sich den historisch interessierten Studierenden von 1963 bis 1970 ein anhaltend umfangreiches thematisches Feld.92
Das oben genannte Umdenken in der Auffassung der Fachzweige seit etwa 1970 spiegelte sich auch langsam in der angebotenen Lehre wider. Durch die Tätigkeit von Dr. Helga de la Motte ab dem Sommersemester 1971 differenzierte sich das Angebot in der Systematischen Musikwissenschaft vorübergehend aus. Zusätzliche Veranstaltungsthemen waren beispielsweise „Musikpsychologie II: Begabung, Motivation, Lernen“ oder „Neue Wege der Klangsynthese“.93
Nach der offiziellen Teilung der beiden Studiengänge 1975 dozierte Dr. Horst-Peter Hesse, Gastdozent aus Göttingen, ab dem Sommersemester 1975 als erster eigens für die Systematische Musikwissenschaft angestellter Lehrbeauftragter nach der Teilung.94 Trotzdem benötigte die Systematische Musikwissenschaft eine gewisse Zeit, um sich zu etablieren. Mit dem Beginn von Dr. Vladimir Karbusickys Arbeit am Institut ab Wintersemester 1976/1977 (ab Sommersemester 1977 bereits Professor), entwickelte sich die Systematische Musikwissenschaft immer mehr. Karbusicky setze im Vergleich zur Tradition Reineckes andere Schwerpunkte am Institut. Während Reinecke sich mehr auf technisch-akustische Aspekte der Systematischen Musikwissenschaft fokussierte, behandelte Karbusicky v. a. Musik im Kontext von Semantik, Semiotik und Soziologie.95 Zu Beginn der 1980er Jahre wurden sogar in manchen Semestern mehr Veranstaltungen in der Systematischen als in der Historischen Musikwissenschaft angeboten (s. Abb. 4).96 Seit diesem Zeitpunkt kann wohl von einer Gleichberechtigung der beiden Studiengänge Historische und Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg gesprochen werden.
Systematische Musikwissenschaft heute
Heute deckt die Lehre in der Systematischen Musikwissenschaft an der Universität Hamburg das gesamte breite Spektrum von der Musikpsychologie bis zur musikalischen Akustik ab. Zudem werden Veranstaltungen aus dem Bereich der Neurowissenschaften und Musik-Informatik angeboten. Auch die Forschung konnte sich auf der Basis der Teilung der Disziplinen weiter spezialisieren. Hamburg bietet damit Studierenden mit Interesse an der Musikpsychologie und der musikalischen Akustik die einzigartige Möglichkeit diese Fachdisziplinen in Deutschland vertieft und schon in einem grundständigen Studiengang nachzugehen. Die methodische Vielseitigkeit der Systematischen Musikwissenschaft zwischen Geistes- und Naturwissenschaft bleibt trotz eigenem Studiengang weiterhin ein spannendes Feld und wird wohl auch in Zukunft sowohl den Austausch mit anderen Disziplinen, als auch mit der Schwesterdisziplin Historische Musikwissenschaft, beflügeln.
Fazit – Auswirkungen auf Forschung und Lehre
Trotz eines fünf Jahre andauernden und nicht ganz einfachen bürokratischen Weges und einer sich anschließenden fünfjährigen fachlichen Emanzipation, konnte sich die Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg innerhalb von ca. zehn Jahren zu einem eigenständigen und gleichberechtigten Studiengang entfalten, der bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Diese Entwicklung in Hamburg sucht in Deutschland Ihresgleichen. Bis heute bietet die Universität Hamburg deutschlandweit als einzige Universität den Bachelor of Arts in Systematischer Musikwissenschaft an. Zwar gibt es inzwischen einige Bachelor- und Masterstudiengänge mit Schwerpunkten im Bereich der Systematischen Musikwissenschaft, allerdings ist dies das Ergebnis einer jüngeren Entwicklung. Die hier beleuchtete Trennung, die sich bereits in den 1970er Jahren vollzog, ist also umso erstaunlicher.