Von Vera Komeyer
Die Musikwissenschaft trat und tritt in der Lehrtradition deutscher Universitäten häufig als Einheit auf. Guido Adler hingegen stellte bereits 1885 die Musikwissenschaft als Fachgebiet dar, welches sich auf zwei Säulen stützt, der Historischen und Systematischen Musikwissenschaft.1 Obwohl alle Teilbereiche die wissenschaftlich-theoretische Beschäftigung mit Musik im Fokus haben, passiert dies doch mit je ganz eigenen Schwerpunkten, Blickwinkeln und Methoden.
Das Musikwissenschaftliche Institut in Hamburg erkannte bereits 1970 die Entwicklung der Fachzweige hin „zu eigenen Disziplinen mit besonderen Forschungsmethoden“. Obwohl es damals einen historischen Fokus in der Hamburger Musikwissenschaft gab, interessierten sich die Studierenden anhaltend auch für deren systematischen Aspekte.2 Dieser Wissbegierde konnte zwar nachgegangen werden, allerdings nur in ergänzender Arbeit zum historischen Fokus des Studiengangs. Das damals schmalere Lehrangebot in der Systematik schränkte dabei die Möglichkeiten ein. Außerdem erforderte der „große stoffliche Umfang“ beider Gebiete einen großen Mehraufwand.3
Dies machte aus Sicht des damaligen Lehrkörpers eine Teilung des Studiengangs Musikwissenschaft in die beiden getrennten Studiengänge Historische und Systematische Musikwissenschaft notwendig. Doch wie konnte eine solche Teilung umgesetzt werden? Der nachfolgende Text widmet sich im ersten Abschnitt in zeitlich chronologischer Abfolge den formal notwendigen Schritten der Teilung (s. Abb. 1 & 24). Es folgt eine Darstellung der inhaltlichen Entwicklung der Studienordnungen vor, während und nach der Aufspaltung, bevor ein detaillierter Blick auf konkrete Studieninhalte geworfen wird. Hier soll die Entwicklung der Lehrinhalte vor und nach der Studiengangstrennung und die Rolle der Lehrpersonen im Fokus stehen.
Spurensuche im bürokratischen Labyrinth – Ablauf der Studiengangsteilung
Ein Protokoll des Institutsrats des Musikwissenschaftlichen Instituts vom 3. März 1970 dokumentierte zum ersten Mal den Plan, die Systematische Musikwissenschaft zu verselbständigen (s. Abb. 35). In Folge eines einstimmigen Beschlusses im Institutsrat sendete Prof. Dr. Georg von Dadelsen als geschäftsführender Direktor am 25. Mai 1970 den ersten Antrag zur Teilung der Studiengänge an den Fachbereichsrat Kulturgeschichte und Kulturkunde.6 Wegen mangelnder Fortschritte in der Antragsstellung bis Ende Oktober 1970 sollte von Dadelsen im Auftrag des Institutsrats die Teilung durch ein Schreiben an den Fachbereich beschleunigen und auf Bedenken aus anderen Fachbereichen eingehen.7 Jedoch bewirkten weder der Antrag vom Mai 1970 noch das Schreiben vom Oktober 1970 eine Reaktion des eigenen Fachbereichs zum Stand der Dinge. Aus diesem Grund wollte der Institutsrat Anfang Juli 1971 erneut schriftlich beim Fachbereichsrat die Lage erfragen und klären, ob es neue Stellungnahmen zum Antrag aus den anderen Fachbereichen gäbe. Kurz vor Weihnachten 1971 berichtete dann der neue kommissarische geschäftsführende Direktor Prof. Dr. Constantin Floros, dass der Prozess nach wie vor durch ausstehende Äußerungen und Bedenken aus anderen Fachbereichen verzögert würde. Deshalb wollte man sich Ende April 1972 mit den Vorsitzenden des gemeinsamen Ausschusses der Fachbereiche zusammensetzen. Erst Ende April 1973 stimmte der Fachbereich Kulturgeschichte und Kulturkunde in Abstimmung mit den anderen Fachbereichen dem Antrag zur Teilung der Studiengänge schließlich zu.
Die nächste Instanz, der Senatsausschuss für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs,8 lehnte den Antrag im Januar 1974 jedoch ab.9 Wiederum ein neuer Antrag des Institutsrats sollte die Argumente des Ausschusses entkräften. Zudem wurde darum gebeten, Dr. Peter Petersen als Vertreter der Musikwissenschaft zur relevanten Sitzung des Ausschusses einzuladen.10 Durch diese Maßnahmen stimmte der Akademische Senat schließlich am 2. Dezember 1974 der Teilung des Studiengangs Musikwissenschaft in die beiden Studiengänge Historische und Systematische Musikwissenschaft zu.
Nach der Darstellung der notwendigen rechtlichen und bürokratischen Schritte für die Einführung des eigenen Studiengangs Systematische Musikwissenschaft soll nun die Entwicklung der groben inhaltlich-strukturellen Aspekte der Teilung erläutert werden.
Emanzipation der Systematischen Musikwissenschaft in der Studienordnung
Eine Studienordnung bildet das Gerüst eines Studiengangs. Sie beinhaltet Aufnahmekriterien, eine empfohlene oder vorgegebene Studienstruktur und liefert den groben inhaltlichen Rahmen – zumindest seit 1969. Vorher wurden inhaltliche und strukturelle Vorgaben meist mündlich oder in sogenannten Studienführern, kleinen Merkheften für Studierende mit Informationen rund um die Universität, weitergegeben.11
Im Studienführer von 1967 schrieb von Dadelsen ganz klar, dass der Fokus des musikwissenschaftlichen Studiengangs auf der Musikgeschichte liege.12 Nach einem viersemestrigen Grundstudium mit Proseminaren beispielsweise zur „Geschichte des Instrumentalkonzerts“, „Übungen zur Motette um 1500“, „Übungen zu den Klavierwerken J. S. Bachs“ oder auch einer „Einführung in den gregorianischen Choral“,13 konnte bei erfolgreicher Zwischenprüfung zum viersemestrigen Hauptstudium übergegangen werden.14 Dessen Hauptveranstaltungsform, die Hauptseminare, boten u. a. „Ästhetik der Oper“, „Tropus und Sequenz“, „Rhythmische und harmonische Probleme der Musik seit 1900“ oder „Bachs Parodieverfahren“ an.15 Ergänzend erwarteten die Lehrenden von den Studierenden den Besuch von Vorlesungen und weiteren Seminaren,16 deren Inhalte von „Beethovens Streichquartett“ bis zur „Analyse ausgewählter Werke der atonalen Musik“ reichten.17 Die Systematische Musikwissenschaft wurde hingegen nur als Spezialgebiet gepflegt und galt nicht als eigenes Prüfungsfach.18 Eine systematische Abschlussarbeit war indes möglich, diese Spezialisierung wurde aber erst nach dem Grundstudium empfohlen.19
Zwischen diesen Richtlinien vom Ende der 1960er Jahre und der ersten Studienordnung für die beiden getrennt studierbaren Fächer Historische und Systematische Musikwissenschaft im Wintersemester 1975/1976 zeigten verschiedene Entwürfe von Studienordnungen ein prozesshaftes Umdenken in der Fachauffassung. Die historische Sichtweise der 1960er Jahre auf die Musikwissenschaft wich bereits 1970, dem Jahr des ersten Teilungsantrags, einer immer gleichwertigeren Betrachtung der Fächerzweige.20 Dieses Umdenken zeigte sich einerseits im Umfang der Darstellung der Systematischen Musikwissenschaft (ein Absatz in der Studienordnung von 1966 im Vergleich zu einem eigenen Kapitel ab 1970). Andererseits erlaubten die inhaltlichen Vorgaben der Studienordnungsentwürfe nun nicht mehr nur vorrangig historische Themen, sondern ein Spektrum von einer geschichtlichen Betrachtung bis zu einer akustisch, physikalischen Sichtweise auf Musik.21 Nach der Bewilligung der beiden geteilten Studiengänge Historische und Systematische Musikwissenschaft im Dezember 1974 gipfelte diese Entwicklung in einer Studienordnung für das Wintersemester 1975/1976, die beide eigenständigen Fächer gleichberechtigt behandelte. Dabei waren sie nur noch durch eine Empfehlung zur gegenseitigen Nebenfachwahl verbunden.22
Inhaltlich sah man in diesen neuen Studienordnungen das Ziel der Historischen Musikwissenschaft darin, die „Musik der Vergangenheit und Gegenwart philologisch, historisch, theoretisch und analytisch zu erforschen“.23 Konkret umgesetzt wurde dies durch das Angebot von Veranstaltungen wie „Notationskunde“ I–III, „Werkanalyse“ I und II, Praktika mit Aufführungsversuchen älterer Musik und Proseminaren zur Gattungsgeschichte oder Stilkunde. In der Systematischen Musikwissenschaft hingegen fokussierte man sich weniger auf die Untersuchung von Musik aus geschichtlicher Perspektive, sondern mehr auf einen personen- und objektbezogenen Ansatz. Das Erkenntnisinteresse war hier, die „Gesetzmäßigkeiten des musikalischen Erlebens und Verhaltens sowie die darauf bezogenen Objektbereiche zu erforschen“.24 Den Kern bildeten jeweils eine Übung in Verbindung mit einem Praktikum in Methodenlehre, Musikpsychologie und musikalischer Akustik. Proseminare zu wichtigen Themen der Systematischen Musikwissenschaft ergänzten diese Grundlagen. Die in Hauptseminaren besprochenen ungelösten Forschungsthemen rundeten das Angebot zusammen mit Vorlesungen zu erschlossenen Themenkomplexen ab.
Klar ist nun, welche groben inhaltlichen und strukturellen Vorgaben die Studierenden vor und nach der Teilung hatten. Doch wie beeinflussten diese Veränderungen das Lehrangebot und in welcher Beziehung stand wiederum die Lehre mit der Personalsituation am Musikwissenschaftlichen Institut?
Auf dem Weg zur Gleichberechtigung – Die Entwicklung der Lehre in Systematischer und Historischer Musikwissenschaft
Ein Lehrangebot ist oft mit personellen Gegebenheiten an einem Institut verbunden. Durch die persönlichen Forschungsschwerpunkte der Dozenten entstehen meist auch thematische Kernpunkte in der Lehre. Das Lehrangebot verändert sich dabei quantitativ und qualitativ nicht plötzlich, sondern fließend. Abbildung 425 veranschaulicht einen solchen quantitativen Verlauf für das Musikwissenschaftliche Institut zwischen dem Sommersemester 1959 und 1982.
Der Blick zurück zum Anfang der 1950er Jahre zeigt ein noch schmales Lehrangebot mit v. a. historisch musikwissenschaftlichen Themen wie der „Einführung in die Musikgeschichte“26 oder „[der] ‚Klangrede’ bei Händel und Bach“. Dennoch gab Prof. Dr. Wilhelm Heinitz (s. Beitrag zu Heinitz’ „Etablierung eines neuen Forschungszweiges“) mit Lehrveranstaltungen zu „Takt und Rhythmus“27 oder „Musik und Bewegung“28 bereits Einblicke in die Systematische Musikwissenschaft. Mit einer Vorlesung „Einführung in die Akustik“ inkl. Übung, positionierte sich Dr. Hans-Peter Reinecke im Sommersemester 1955, dem Beginn seiner Lehrtätigkeit am Institut, wesentlich klarer in der Systematischen Musikwissenschaft und ermöglichte damit deren Etablierung in Hamburg.29 Bis in die 1970er Jahre vertrat v. a. Reinecke die Systematische Musikwissenschaft. Veranstaltungen waren beispielsweise die „Einführung in die Raumakustik“30 oder „Tonpsychologie und Musikpsychologie“31. Zudem bot er im Laufe der 1960er Jahre eine „Einführung in die systematische Musikwissenschaft“32, ein Praktikum zu „[a]kustischen Untersuchungen an Musikinstrumenten“33 und „Informationstheorie in der Musikwissenschaft“34 an.
Einen deutlich größeren Anteil bildete jedoch die Lehre der Historischen Musikwissenschaft. Hier stieg die Anzahl der Veranstaltungen merklich ab dem Sommersemester 1961, dem Beginn der Amtszeit von Georg von Dadelsen als geschäftsführender Direktor am Institut.35 Insbesondere zusätzliche Vorlesungen – thematische Beispiele sind hier „Richard Strauss“, „Alban Berg“ oder auch „Hamburg im Spiegel der allgemeinen Musikgeschichte“36 – verstärkten das bisherige Angebot der Proseminare und Seminare. Mit einem breiten Spektrum von mehreren Veranstaltungen zur allgemeinen Musikgeschichte und Grundfragen der Stilkunde, über Vorlesungen und Seminare zu einzelnen Komponisten, bis hin zu ganz speziellen Themen wie der „[m]ehrstimmige[n] Musik im 12. und 13. Jahrhundert“ bot sich den historisch interessierten Studierenden von 1963 bis 1970 ein anhaltend umfangreiches thematisches Feld.37
Das oben genannte Umdenken in der Auffassung der Fachzweige seit etwa 1970 spiegelte sich auch langsam in der angebotenen Lehre wider. Durch die Tätigkeit von Dr. Helga de la Motte ab dem Sommersemester 1971 differenzierte sich das Angebot in der Systematischen Musikwissenschaft vorübergehend aus. Zusätzliche Veranstaltungsthemen waren beispielsweise „Musikpsychologie II: Begabung, Motivation, Lernen“ oder „Neue Wege der Klangsynthese“.38
Nach der offiziellen Teilung der beiden Studiengänge 1975 dozierte Dr. Horst-Peter Hesse, Gastdozent aus Göttingen, ab dem Sommersemester 1975 als erster eigens für die Systematische Musikwissenschaft angestellter Lehrbeauftragter nach der Teilung.39 Trotzdem benötigte die Systematische Musikwissenschaft eine gewisse Zeit, um sich zu etablieren. Mit dem Beginn von Dr. Vladimir Karbusickys Arbeit am Institut ab Wintersemester 1976/1977 (ab Sommersemester 1977 bereits Professor), entwickelte sich die Systematische Musikwissenschaft immer mehr. Karbusicky setze im Vergleich zur Tradition Reineckes andere Schwerpunkte am Institut. Während Reinecke sich mehr auf technisch-akustische Aspekte der Systematischen Musikwissenschaft fokussierte, behandelte Karbusicky v. a. Musik im Kontext von Semantik, Semiotik und Soziologie.40 Zu Beginn der 1980er Jahre wurden sogar in manchen Semestern mehr Veranstaltungen in der Systematischen als in der Historischen Musikwissenschaft angeboten (s. Abb. 4).41 Seit diesem Zeitpunkt kann wohl von einer Gleichberechtigung der beiden Studiengänge Historische und Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg gesprochen werden.
Systematische Musikwissenschaft heute
Heute deckt die Lehre in der Systematischen Musikwissenschaft an der Universität Hamburg das gesamte breite Spektrum von der Musikpsychologie bis zur musikalischen Akustik ab. Zudem werden Veranstaltungen aus dem Bereich der Neurowissenschaften und Musik-Informatik angeboten. Auch die Forschung konnte sich auf der Basis der Teilung der Disziplinen weiter spezialisieren. Hamburg bietet damit Studierenden mit Interesse an der Musikpsychologie und der musikalischen Akustik die einzigartige Möglichkeit diese Fachdisziplinen in Deutschland vertieft und schon in einem grundständigen Studiengang nachzugehen. Die methodische Vielseitigkeit der Systematischen Musikwissenschaft zwischen Geistes- und Naturwissenschaft bleibt trotz eigenem Studiengang weiterhin ein spannendes Feld und wird wohl auch in Zukunft sowohl den Austausch mit anderen Disziplinen, als auch mit der Schwesterdisziplin Historische Musikwissenschaft, beflügeln.
Fazit – Auswirkungen auf Forschung und Lehre
Trotz eines fünf Jahre andauernden und nicht ganz einfachen bürokratischen Weges und einer sich anschließenden fünfjährigen fachlichen Emanzipation, konnte sich die Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg innerhalb von ca. zehn Jahren zu einem eigenständigen und gleichberechtigten Studiengang entfalten, der bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Diese Entwicklung in Hamburg sucht in Deutschland Ihresgleichen. Bis heute bietet die Universität Hamburg deutschlandweit als einzige Universität den Bachelor of Arts in Systematischer Musikwissenschaft an. Zwar gibt es inzwischen einige Bachelor- und Masterstudiengänge mit Schwerpunkten im Bereich der Systematischen Musikwissenschaft, allerdings ist dies das Ergebnis einer jüngeren Entwicklung. Die hier beleuchtete Trennung, die sich bereits in den 1970er Jahren vollzog, ist also umso erstaunlicher.
zurück zum Inhaltsverzeichnis Institutionalisierung / Institut / Institute