Wissenschaft ist immer öffentlich, hat aber viele unterschiedliche AdressatInnen: intra-, trans- und interdisziplinäre KollegInnen, wissbegierige StudentInnen, Kulturbetrieb, Radio, Politik, enthusiastische MusikliebhaberInnen, die interessierte Öffentlichkeit. Alle diese verschiedenen Adressatenkreise haben ihre eigenen Fragen und Erwartungen an die Musikwissenschaft, unterschiedliche Vorkenntnisse, spezifische Kommunikationswege und –ansprüche sowie Bewertungskriterien. Und alle diese AdressatInnen wurden und werden von der Hamburger Musikwissenschaft angesprochen: Mit zahlreichen Publikationen und Schriftenreihen, Interviews, Lehrprojekten, Kooperationen, Vortragsreihen, Ausstellungen, Kongressen, Exkursionen, Sonderforschungsprojekten – die folgenden Beiträge zeigen zwei vielseitige Beispiele aus Vergangenheit bis Gegenwart.

1. Die Etablierung eines neuen Forschungszweiges: Wilhelm Heinitz’ ‚Biomusikologie‘ in der disziplinären Öffentlichkeit
2. Aus den Charts an die Uni: Popularmusik in der Lehre am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg

Aus den Charts an die Uni: Popularmusik in der Lehre am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg

Von Björn Rohwer

Popularmusik in der Lehre am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg

Der Schlager sei eine „sozialpsychologische Versuchsanordnung zur Auslösung von triebhaften Verhaltensweisen, deren Folge Bewußtseinsverstümmelung sei“1 – Popmusik „wie ein unaufhörlicher Urlaub, den man doch nur mit Arbeit zubringt“2. Mit diesen drastischen Ansichten stand Theodor W. Adorno lange keinesfalls alleine da. Die hierzulande betriebene Musikwissenschaft hatte zunächst nur wenig Platz für Popularmusik – in erster Linie konzentrierte sie sich auf die „Große Musik“, also die europäische Kunstmusik der letzten 300 Jahre.3 Aber galt dieses Verhältnis auch für das Musikwissenschaftliche Institut der Universität Hamburg? Wie kommt es, dass seit dem Wintersemester 2016/2017 für Bachelorstudierende der Systematischen Musikwissenschaften gar die Beschäftigung mit „Jazz- und Popularmusiktheorie“ zur Pflicht geworden ist?4

Diesen Fragen möchte ich im Folgenden anhand der Lehrveranstaltungen des Musikwissenschaftlichen Institutes zwischen dem Sommersemester 1949 und dem Wintersemester 2016/2017 nachgehen.5 Die getroffenen Aussagen stehen dabei allerdings zum Teil unter dem Vorbehalt, dass Lehrveranstaltungen auch nach Druckschluss der Vorlesungsverzeichnisse noch kurzfristig ausfallen oder hinzukommen können.6 Da diese aber zumindest das Resultat einer Planungsphase waren, sollte trotz dieser Unschärfe hier ein Bild über den Stellenwert und die Entwicklung der popularmusikalischen Lehre am Institut gezeichnet werden können.

Die Charts sind nicht genug

Bevor die Beschäftigung mit Popularmusik an den Musikwissenschaftlichen Instituten der Universität Hamburg weiter untersucht wird, sollte geklärt werden, was an den Hamburger Instituten und somit auch in diesem Beitrag unter diesem Begriff verstanden wird. Sind es nur die Lieder, die wir tagtäglich in den Charts hören? Für den 2002 herausgegebenen 19. Band des Hamburger Jahrbuchs für Musikwissenschaften haben die Herausgeber Prof. Dr. Helmut Rösing, Prof. Dr. Albrecht Schneider und Dr. Martin Pfleiderer eine deutlich breitere Definition gewählt: „[Der Begriff] umfaßt so unterschiedliche Musikbereiche wie volkstümliche Musik, Popklassik und Schlager, Jazz, Rock, Folk, Operette und Musical, aber auch die sogenannte ‚unpopuläre‘ populäre Musik, die z. B. in der Independent-Szene und in der neuen Club-Kultur gedeiht.“7 Auch wenn die Herausgeber im selben Atemzug erwähnen, dass die Bezeichnung noch lange nicht ausdiskutiert ist, sondern mehr als „grobe Verständigungsmarke“8 funktioniert, scheint sie für die Betrachtung der entsprechenden Lehre am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg die sinnvollste zu sein – schließlich wurde sie von prägenden Köpfen der Hamburger Popularmusikforschung aufgestellt.

Startschuss für den Pop?

Es ist schwer, einen genauen Startpunkt der Beschäftigung mit Popularmusik innerhalb der Lehre am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg auszumachen. Vielmehr hat sich die Popularmusik über die besondere Ausrichtung des Hamburger Institutes mit einem Schwerpunkt auf die Systematische Musikwissenschaft sozusagen automatisch in den Hochschulalltag hineingeschlichen. Rösing, Schneider und Pfleiderer schreiben dazu: „[Es] erstaunt […] nicht, daß im Rahmen musikpsycholgisch-experimenteller, musiksoziolgisch-empirischer und musikethnologischer Arbeit an diesem Institut auch die verschiedensten Formen der populären Musik wie selbstverständlich in die jeweiligen Forschungsprogramme mit einbezogen worden sind.“9 Dort, wo unter anderem die Wirkung von Musik auf Mensch und Gesellschaft untersucht wird, spielt gerade die präsente Musik des Alltags immer größerer Bevölkerungsgruppen eine Rolle.

Im Sommersemester 1973 landete mit „Wort-Ton-Problem in alter und neuer Musik einschließlich Folklore und Pop-Musik“  das erste Mal eine Veranstaltung mit explizit ausgeschriebenen Popularmusikanteilen im Lehrplan.10 Im Wintersemester 1973/1974 folgte dann direkt das erste Seminar mit einem Schwerpunkt auf Popularmusik: „Interdisziplinäre Aspekte von Analysen der Popularmusik“.11 Für beide Seminare war Prof. Dr. Hermann Rauhe zuständig. Eigentlich seit 1970 im Bereich der Erziehungswissenschaften für Musikpädagogik zuständig, gab er hier zwei Seminare am Musikwissenschaftlichen Institut.12 Einige Jahre später sollte er als Präsident der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg mit der Gründung des Modellversuchs Popularmusik (heute Eventim Popkurs) für die Popularmusik in Hamburg prägend werden.13

Die beiden Seminare Rauhes am Musikwissenschaftlichen Institut boten allerdings nur ein kurzes, intensiveres Schlaglicht auf die Popularmusik. Nachdem 1975 die Hamburger Musikwissenschaft in die zwei Studiengänge aufgeteilt wurde, „Historische Musikwissenschaft“ und „Systematische Musikwissenschaft“ (s. Beitrag zur „Teilung der Studiengänge“), rückte die Beschäftigung mit Popularmusik zurück in den größeren Kontext soziologischer und psychologischer Seminare und damit schwerpunkthaft in das Angebot der Systematischen Musikwissenschaften. Gerade die Veranstaltungen Prof. Dr. Vladimir Karbusickys, von 1976 bis 1990 Professor für Systematische Musikwissenschaften am Institut, bezogen popularmusikwissenschaftliche Themen ein, wie etwa „Soziologie und Ästhetik der musikalischen Massenkultur“14 (WiSe 1979/80) oder „Trivialmusik, Umgangsmusik, Massenkultur“15 (SoSe 1981). Im Wintersemester 1984/1985 folgte mit „Zur Soziologie und Geschichte der Rockmusik“ dann unter der Leitung von Schneider wieder ein Seminar, mit ausschließlich popularmusikalischen Inhalten.16

Die Ära Schneider, Rösing und Pfleiderer

Schneider trat 1983 eine Professur für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg an und bot mit den Thema „Zur Soziologie und Geschichte der Rockmusik“ das erste Seminar, das sich genauer mit der historischen Dimension eines bestimmten Zweiges der Popularmusik auseinandersetzen sollte, aber durch die Soziologie auch klar im Feld der Systematischen Musikwissenschaft verortet war. Es folgten verschiedene Veranstaltungen ähnlicher Richtung wie „Zur Soziologie und Sozialgeschichte populärer Musik, Teil I“17 (SoSe 1989), und „Soziologie und Geschichte der populären Musik in England 1960/1970“18 (SoSe 2006). Regelmäßig fanden des weiteren Seminare zu dem eher wirtschaftlich orientierten Thema „Musik und Recht“19 (u. a. SoSe 1985, SoSe 1989, WiSe 1995/96 und SoSe 2005) statt. Als Manager in der Musikwirtschaft beschäftigte Schneider sich bereits vor seiner Professur mit Urheber-, Medien- und dem Sozialversicherungsrecht für Künstler – es folgten daraus nicht nur besagte Lehrveranstaltungen, sondern auch zahlreiche Veröffentlichungen.20 Mit insgesamt 17 Lehrveranstaltungen zu direkt oder indirekt popularmusikwissenschaftlichen Themen war Schneider bis zum Sommersemester 2011 die zentrale Stütze dieses Zweiges am Musikwissenschaftlichen Institut.

Abbildung 1: Seminare zur Popularmusik bei den Systematischen Musikwissenschaften 1993–2017. Die dargestellten Prozentangaben zeigen den Anteil der Seminare mit Popularmusik-Bezug in den Systematischen Musikwissenschaften bezogen auf die Gesamtzahl der Seminare pro Zeitraum.

Neben Schneider sorgten im Umfeld der Jahrtausendwende zusätzlich Rösing und Pfleiderer für eine regelrechte Pop-Hoch-Zeit. Rösing kam 1993 an das Institut und war bereits zuvor seit 1986 Herausgeber der Beiträge zur Popularmusikforschung des Arbeitskreises Studium Populärer Musik (ASPM). Als Herausgeber eben dieser Schriftenreihe trat seit 1996 dann auf Wunsch Rösings auch das Musikwissenschaftliche Institut auf.21 Zu seinen Seminaren zählten sowohl direkte Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Popularmusik (z. B. „Rockmusik in den 80ern“22 (SoSe 1995)) als auch Veranstaltungen zur Wirkung und Rezeption der Popularmusik (z. B. „Musikalische Lebenswelten Jugendlicher“23 (SoSe 1999)). Die Wichtigkeit der Popularmusik im Alltag – gerade dem Alltag Jugendlicher – stellte Rösing unter anderem in dem gemeinsam mit Prof. Dr. Herbert Bruhn24 erarbeiteten Werk „Musikwissenschaft. Ein Grundkurs“25 heraus.

Weitere Impulse der Popularmusikforschung brachten in den 1990er-Jahren Prof. Dr. Peter Niklas Wilson und Prof. Dr. Reinhard Flender an das Institut. Wilson war selbst Jazzmusiker und arbeite so sowohl praktisch als auch wissenschaftlich-theoretisch an Themen wie dem Crossover zwischen Jazz und Pop.26 Nach seiner Promotion 1984 und Habilitation 1994 lehrte er an der Universität Hamburg als Privatdozent (u. a. im SoSe 1999 „Weltmusik: Aspekte eines problematischen Begriffs“27). Flender promovierte zunächst 1988 in Hamburg zum Thema biblischen Sprechgesang.28 Zusätzlich beschäftigte er sich bereits zu der Zeit mit Popularmusik und lehrte nach seiner Habilitation 1994 ebenfalls als Privatdozent an den Musikwissenschaftlichen Instituten (u. a. im WiSe 2013/14 „Neue Musik & Jazz in Hamburg“29).

Pfleiderer trat nach seiner Promotion an der Universität Gießen zur „Rezeption asiatischer und afrikanischer Musik im Jazz der 60er und 70er Jahre“ 1999 eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent für Systematische Musikwissenschaft in Hamburg an. Bis zu seiner Habilitation im Jahr 200530 hielt er insgesamt neun Seminare zum breiten Spektrum der popularmusikalischen Genres – ob Jazz (WiSe 2004/05),31 World Music (SoSe 1999),32 Soul, Funk und HipHop (SoSe 2002)33 oder Popularmusik im Allgemeinen (WiSe 2002/03).34 Gerade diese Zeit, in der sich sowohl Schneider, Rösing als auch Pfleiderer am Institut befanden, ist mit im Schnitt drei Veranstaltungen mit popularmusikalischem Bezug pro Semester eindeutig ein Höhepunkt dieses Zweiges – zumindest auf Seiten der Systematischen Musikwissenschaften.

Als der Pop Geschichte wurde

Für die Historischen Musikwissenschaften markiert die Ringvorlesungsreihe „Amerikanische Musik im 20. Jahrhundert“ den Startpunkt der Popularmusik im Lehrangebot. Im November 1993 wurde sie unter der Leitung von Dr. Annette Kreutziger-Herr, zu diesem Zeitpunkt wissenschaftliche Assistentin für Historische Musikwissenschaften am Institut,35 vom Institutsrat genehmigt.36 Finanziert wurde die Vortragsreihe und das daraus entstandene Buch von der Arbeitsstelle für wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Hamburg, der United States Information Agency in Deutschland sowie durch das Amerika Haus Hamburg.37 Im Wintersemester 1994/1995 startete die erste Ringvorlesung unter dem Titel „Aspekte amerikanischer Musik im 20. Jahrhundert“38 in der neben Vorträgen zu „Paul Dessau in den USA“  (Prof. Dr. Peter Petersen) und „Charles Ives – Wegbereiter der amerikanischen Moderne“ (Dr. Wolfgang Rathert)39 auch „Schwarze Traditionen in Rock und Pop“ (Rösing) und „Die Reise zu einer Musik ohne Noten“ (Prof. Dr. Manfred Stahnke)40 zum Thema wurden.41 Die Ringvorlesung wurde überwiegend von Professoren, wissenschaftlichen MitarbeiternInnen und freien DozentenInnen des Musikwissenschaftlichen Institut selbst gestaltet – die Vortragenden Rathert (Universität der Künste Berlin), Heinz Geuen (Universität Kassel)42 oder Dr. Werner Grünzweig (Akademie der Künste Berlin)43 ergänzten das Portfolio. Im Wintersemester 1995/1996 folgte mit „Die Rezeption amerikanischer Musik in der BRD“ die zweite Ringvorlesung dieser Reihe – dieses Mal und der Leitung von Dr. Uwe Seifert44 und Rösing.45

Nachdem im Folgenden nur sehr wenige Seminare mit Popularmusik-Bezug gehalten wurden,46 zog ab 2009 diese Richtung mit im Schnitt einem Seminar pro Semester kontinuierlicher in das Feld der Historischen Musikwissenschaft ein. Hierbei sticht vor allem Prof. Dr. Friedrich Geiger heraus, der mit „Slang of Ages: Steely Dan 1972–2009“47 (SoSe 2009) sowie dem zweimal gehaltenen Seminar „Michael Jackson versus Prince“48 (SoSe 2010 und SoSe 2015 gemeinsam mit Ralph Kogelheide) erstmals am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg einzelne Künstler der Popularmusik in das Zentrum eines Seminars stellte. Weiter hielt er im Wintersemester 2015/2016 gemeinsam mit Prof. Dr. Silke Segler-Meßner ein Seminar zum Thema „Narrative der Erinnerung: NS-Zeit in Film und Musik“49 und band unter anderem auch in die Vorlesung und Übung zum Thema „Musik in Deutschland im 20. Jahrhundert“ im Wintersemester 2016/2017 Sitzungen zu popularmusikalischen Entwicklungen ein.

Abbildung 2: Seminare zur Popularmusik bei den Historischen Musikwissenschaften 1993–2017. Die dargestellten Prozentangaben zeigen den Anteil der Seminare mit Popularmusik-Bezug in den Historischen Musikwissenschaften bezogen auf die Gesamtzahl der Seminare pro Zeitraum.
Systematik und Popularmusiklehre heute

Bei den Systematischen Musikwissenschaften zählt die Popularmusik heute zu einem der fest verankerten Bausteine des Studiums. Auch nach dem Weggang Pfleiderers und der Emeritierung Rösings und Schneiders gab es in jedem Semester Angebote in diesem Themengebiet. Besonders regelmäßig finden dabei die Veranstaltungen Dr. Marc Pendzichs statt, der nach seiner Promotion bei Schneider im Jahr 2003 zum Thema „Von der Coverversion zum Hit-Recycling“50 bis heute kontinuierlich Seminare zu Themen wie Recht, Wirtschaft und Politik hält – immer eng an Popularmusik gebunden.

Neben ihm traten in den letzten Jahren vor allen Dingen der Institutsleiter Prof. Dr. Rolf Bader (u. a. mit mehreren Seminaren zum Thema Jazzrock und Fusion), Prof. Dr. Clemens Wöllner (u. a. in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Kathrin Fahlenbrach des Institutes für Medien & Kommunikation zum Thema „Ästhetik und Wahrnehmung von Musik in Film, Werbung und Computerspielen“51) sowie die Doktoranden Henning Albrecht (mit dem Schwerpunkt auf Filmmusik) und Michael Blaß (zu Punk und Zeckenrap) mit Seminaren mit Popularmusikbezug auf. Spätestens seit dem Wintersemester 2016/2017 ist die Popularmusik schließlich durch das neue Bachelor-Pflichtfach „Jazz- und Popularmusiktheorie“ endgültig im Studienleben der Hamburger Systematischen Musikwissenschaften angekommen.52

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Die Hamburger Universität ist mit ihren bald 100 Jahren noch relativ jung (Jubiläumsjahr 2019; s. a. Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte); die Geschichte der Musikwissenschaft an dieser Universität immerhin beinahe genauso alt. Heute ist die Universität Hamburg mit fünf Professuren, 23 wissenschaftlichen MitarbeiterInnen (Stand Dezember 2016) und zahlreichen weiteren KollegInnen in Lehre und Verwaltung einer der größten Musikwissenschaft-Standpunkte in Deutschland. Er wurde 2013 in zwei eigenständige Institute gegliedert: Das Institut für Historische Musikwissenschaft und das Institut für Systematische Musikwissenschaft.
Doch aller Anfang ist schwer. Auch in Hamburg brauchte es zunächst 30 Jahre bis zur offiziellen Institutsgründung 1949. Die folgenden Beiträge beleuchten einzelne Stationen des langen Weges bis zur Gründung sowie weitere institutionelle Entwicklungen mit ihren Auswirkungen auf die hiesige Forschung und Lehre.

1. Wie alles begann – Die Anfänge der Hamburger Musikwissenschaft
2. Hans Joachim Therstappen und die Hamburger Historische Musikwissenschaft während des „Dritten Reichs“
3. Aus EIN mach ZWEI – Teilung der Studiengänge Historische und Systematische Musikwissenschaft

 

Hans Joachim Therstappen und die Hamburger Historische Musikwissenschaft während des „Dritten Reichs“

Von Mia Kirsch

Die Hamburger Musikwissenschaft war während der Jahre 1933 bis 1945 noch nicht offiziell institutionalisiert. Musikwissenschaftliche Forschung und Lehre wurden dennoch durch unterschiedliche Dozenten verschiedener Abteilungen und Institute vertreten, zudem herrschte ein häufiger Wechsel von Lehrbeauftragten. So kamen etwa Prof. Dr. Wilhelm Heinitz und Prof. Dr. Georg Anschütz, die zur Zeit des „Dritten Reichs“ fortlaufend musikwissenschaftliche Lehrveranstaltungen aus dem Bereich der Vergleichenden Musikwissenschaft, der Musikpsychologie und der Musikästhetik abhielten,1 ursprünglich nicht aus dem Fach der Musikwissenschaft (s. Beitrag „Wie alles begann“). Besonders die Historische Musikwissenschaft war in den Anfangsjahren der Universität noch wenig vertreten und begann sich erst mit der Gründung eines eigenständigen Universitäts-Musikinstituts 1934 zu verstetigen.2 Auf die in dieser Hinsicht prägende Arbeit seines Leiters Hans Joachim Therstappen soll im Folgenden näher eingegangen werden.

Therstappens Vorgänger und die Historische Musikwissenschaft

Die zur Historischen Musikwissenschaft gehörenden Bereiche der Musikgeschichte und -theorie wurden an der Universität Hamburg in erster Linie durch Lehraufträge abgedeckt. Hier ist beispielsweise Dr. Walther Vetter zu nennen, der im Zeitraum von 1929 bis 1934 mehrere Veranstaltungen unter anderem zur Musikgeschichte der Antike, des 18. und 19. Jahrhunderts anbot. Darüber hinaus hielt er auch eine Einführung zur Musikwissenschaft sowie beispielsweise Vorlesungen und Übungen zu Bach, Beethoven, Wagner und zur Geschichte der Klaviermusik.3 Neben Vetter wirkte während der Jahre 1923 bis 1933 der Komponist und Musikkritiker Robert Gerson Müller-Hartmann. Sein Schwerpunkt war vor allem die Musiktheorie: Er hielt Veranstaltungen zur Harmonielehre, Formlehre und Kontrapunkt sowie zu Liedern von Schubert bis Hugo Wolf.4 Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde er jedoch noch vor dem Sommersemester 1933 entlassen.5 Ihm folgte zum Wintersemester 1934/1935 Hans Hoffmann. Hoffman deckte wie Müller-Hartmann vorwiegend den Bereich der Musiktheorie ab. Neben zahlreichen Übungen zum Partitur- und Generalbassspiel sowie zum Volkslied, zur Analyse von Musikwerken, Harmonie- und Formlehre, ist den Vorlesungsverzeichnissen zu entnehmen, dass er auch Veranstaltungen zur Musikgeschichte hielt – beispielsweise zu Bachs Wohltemperiertem Klavier oder zur Stilkunde und Aufführungspraxis älterer Musik.6

Nachdem Vetter die Universität zum Sommersemester 1935 verließ, verringerten sich vom Sommersemester 1935 bis zum Wintersemester 1936/1937 die musikgeschichtlichen Veranstaltungen, die derzeit von Hoffmann geleitet wurden.7 Hoffmann zog 1936 ein künstlerisches Engagement nach Bielefeld.8 In den folgenden Semestern sind in den Vorlesungsverzeichnissen lediglich ein paar Übungen beispielsweise zur Satzlehre, Formlehre und Generalpassspiel aufgeführt, für die im Vorlesungsverzeichnis noch kein Dozent bekannt gegeben wurde.9 Erst im Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester 1937 war Therstappen als Dozent eingetragen.10 Im Sommersemester sowie im Wintersemester 1937/38 hielt er zunächst nur wenige Veranstaltungen zur Musikgeschichte, darunter eine zu Buxtehude, zur Geschichte der Hamburgischen Musik sowie zur Allgemeinen Musiklehre. Es folgten viele weitere Vorlesungen und Übungen, sodass Therstappen bald ein breites Spektrum der Musikgeschichte abdeckte. Die deutsche Oper des 18. Jahrhunderts, Johann Sebastian Bach, Mozart, Johannes Brahms, die Geschichte der Musik seit Beethoven, Musikgeschichte der Romantik, Heinrich Schütz, die Streichquartette Joseph Haydns, Frühgeschichte der Sinfonie, die Sinfonie Joseph Haydns, Musikgeschichte des Mittelalters, Franz Schubert, Orlando di Lasso, die Moderne11 – um nur einige seiner Themengebiete zu nennen.

Exkurs: Ein kurzer Einblick in den Werdegang Therstappens

Der am 1. August 1905 geborene Bremer erhielt noch zu Schulzeiten Musikunterricht in Klavier, Orgel, Violoncello und Musiktheorie. 1924 ging er zunächst an die Universität München. Dort sowie in Leipzig und Kiel besuchte er bis 1930 musikwissenschaftliche Veranstaltungen, hörte Vorlesungen über deutsche Sprache und Literatur und widmete sich weiterhin seiner praktischen musikalischen Ausbildung, sodass er ebenso als Klavier- und Cembalospieler sowie als Komponist qualifiziert war. Er schloss seine Studien mit einer Dissertation zur Entwicklung der Form bei Schubert ab.12 An der Universität Kiel stellte man ihn 1930 als planmäßigen Lektor für Musik an, bis er 1936 schließlich zum Leiter des Musik-Institutes an der Hansischen Universität sowie 1945 zum außerplanmäßigen Professor in Hamburg ernannt wurde.13

Therstappen und das Musik-Institut

Therstappen deckte am Musik-Institut in Hamburg ab dem Wintersemester 1936/1937 die Bereiche der Musikgeschichte, Musiktheorie sowie die akademische Musikpflege ab. Neben den genannten musikgeschichtlichen Vorlesungen kamen Übungen zum Kontrapunkt sowie der Satz- und Harmonielehre hinzu. Als Beauftragter der akademischen Musikpflege leitete er zudem den Studentenchor und das Studentenorchester. Nachdem Therstappen an der Hamburger Universität zunächst nur einen Lehrauftrag besaß, habilitierte er sich 1939 mit der Schrift Die Londoner Sinfonien Joseph Haydns. Studien zur Formgestaltung der deutschen Klassik aus Kiel um und wurde schließlich am 23. November 1939 zum Dozenten ernannt.14 Zwar wurden Bedenken geäußert, Therstappen sei „Spezialist […] und im Hinblick auf seine Tätigkeit als Musikkritiker wahrscheinlich nicht in erster Linie Dozent“,15 wie es im Protokoll der Fakultätsratssitzung vom 23. November 1939 heißt. Diesbezüglich entgegenete Prof. Dr. Fritz Jäger in einer Stellungnahme zum Antrag Therstappens auf Verleihung der Lehrbefugnis indirekt: „Die Fakultät ist überzeugt, dass die Zulassung Dr. Therstappens als Dozent für Musikwissenschaft vollauf gerechtfertigt ist und eine bisher schmerzlich empfundene Lücke in unserem Unterrichtsbetrieb auszufüllen ist.“ Außerdem lobt er Therstappens Lehrprobe zum Thema „Die Musikkultur des deutschen Barock“, in der er eine „erschöpfende Sachkenntnis“ sowie „die Befähigung […], sich fliessend und verständlich auszudrücken“ bewiesen habe. Auch Therstappens Habilitationsschrift bezeichnet er „als eine bedeutsame, nach Methode und Zielsetzung durchaus selbstständige und in ihren Ergebnissen überzeugende wissenschaftliche Leistung.“16

Mit Therstappen als beamteten Dozenten wuchs die Historische Musikwissenschaft als Disziplin an der Universität Hamburg, was zum Beispiel daran sichtbar wird, dass Therstappen jedes Semester Vorlesungen zu unterschiedlichen Bereichen der Musikgeschichte hielt.17 Neben seinen großen Schriften verfasste er diverse Aufsätze zu den Themen Mozart, Beethoven, Reger (u.a.),18 die er ebenso in seinen Veranstaltungen diskutiert. Während seiner Zeit als Leiter regte er neun Dissertationen an.19 Im Jahre 1947 beantragte Therstappen die Umbenennung des Musik-Institutes in „Musikwissenschaftliches Institut“,20 das seinen Namen bis zur Trennung der Institute in Systematische und Historische Musikwissenschaft 2013 trug. Prof. Dr. Heinrich Husmann beschreibt in seinem Kondolenzbrief and die Philosophische Fakultät die Umbenennung des Instituts als

„eine[n] symbolische[n] Ausdruck der Tatsache, dass die Musikwissenschaft sich […] auch in Hamburg als voll wissenschaftliche historische Disziplin in den Kreis der übrigen Wissenschaften einfügte, einer Entwicklung, die mit ganz geringen Ausnahmen längst an allen deutschen Universitäten vollzogen war. Und hierin ist wohl überhaupt das grösste Verdienst von Prof. Therstappen zu sehen, er hat der Hamburgischen Universität aus einem dem praktischen Musizieren der Studenten aller Fakultäten dienenden Institut, […] ein vollgültiges, von echt wissenschaftlichem Geist getragenes, die modernsten stilkritischen und philologisch-historischen Methoden anwendendes Institut entwickelt.“21

Therstappens Position während des Zweiten Weltkrieges

Auch Therstappens Stellung zur NS-Führung ist, wie die vieler seiner Kollegen, äußerst schwierig zu beurteilen. 1938 wurde ihm bescheinigt, dass er in der NSDAP als „ordentliches Mitglied geführt“ wird.22 Selbst wenn den Vorlesungsverzeichnissen entnommen werden kann, dass Therstappen auch während des Krieges weiterhin musikgeschichtliche Veranstaltungen hielt – die wie zuvor Themen wie Mozart, Schubert usw. behandelten23 – lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen, ob seine Lehrveranstaltungen von ideologischem Gedankengut geprägt waren. Bereits zum Sommersemester 1936 wurden Übungen zum „Mannschaftssingen“, „Allgemeinen Volksliedsingen“, „Volksliedübungen für Singleiter“ der SA, SS, BDM und HJ in den Vorlesungsverzeichnissen aufgenommen, die Therstappen seinerzeit fortführte.24 Mögliche ideologische Ziele und Gedanken Therstappens bei der Übernahme dieser Pflichtkurse lassen sich aus heutiger Sicht nicht mehr rekonstruieren. Unter seinen Schriften dieser Zeit sind hingegen zwei Aufsätze – „Stammhafte Züge in der deutschen klassischen Musik“ und „Beethoven und die Gegenwart“ – die 1941/1942 in der Völkischen Musikerziehung erschienen, als linientreu deutbar.25 Er verwendet hier Wortwendungen wie den „[…] sieghaft deutsche[n] Charakter in Haydns Musik, der sich über die Welt ausbreiten sollte […]“, „Mozarts Drang nach der Schöpfung einer national-deutschen Oper […]“26 und auch dem Zitat „Seid umschlungen Millionen, diesen Kuß der ganzen Welt“ aus Beethovens 9. Symphonie fügt er den Gedanken hinzu: „In dieser umfassenden Gebärde fühlen wir uns heute noch umfangen und einbezogen. Wir spüren mit Erschütterung, wie sehr der Musiker Beethoven noch unsere eigene Sache vertritt.“27 Eine Bewertung, inwieweit solche Formulierungen in dem entsprechenden Publikationsorgan verpflichtend waren, ob also Überzeugung oder inwieweit „lediglich“ Mitläufertum hinter ihnen stehen, kann hier nicht abschließend erfolgen.

Als er im September 1940 in den Krieg eingezogen wurde, gab er sich zunächst mindestens dienstpflichtig. So schrieb er in seinem „Gruß an die Hansische Universität“: „Aber wie uns allen ein Gedanke gemeinsam ist: Der Gedanke der Pflichterfüllung für Volk und Führer, wie uns allen ein Ziel vor Augen steht: Der volle Sieg über unseren Gegner […]. Es wird darum gehen, für jeden von uns, mitzuhelfen an einer geistigen und politischen Neuordnung der Welt, die über Europa hinausreicht.“28

An der Front zog sich Therstappen eine schwere Enzephalitis (Gehirnentzündung) zu, die ihn zunächst arbeitsunfähig werden ließ.29 1945 äußerte Therstappen sich in einem Brief an den Dekan August Klingenheben, dass sich sein Gesundheitszustand verbessert habe und er im kommenden Semester wieder Vorlesungen und Übungen sowie die Leitung des Musikinstituts übernehmen könne.30 Sein Zustand verschlechterte sich jedoch weiterhin, sodass Therstappen noch 1949, also im Alter von 43 Jahren, in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde.31 Er erlag den Folgen des Krieges und starb am 28. März 1950.32 Das Nachwirken seiner Person ist unter anderem an den vielen Kondolenzschreiben anderer Universitäten – darunter die Christian-Albrechts-Universität Kiel, Universität Leipzig, Technische Hochschule München, Universität München und die Freie Universität Berlin – zu erkennen, die nach seinem Tod eingingen.33

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Was braucht ein musikwissenschaftliches Institut, um produktiv arbeiten zu können? Vieles, was selbstverständlich scheint – angemessene Räumlichkeiten, eine gut ausgestattete Bibliothek, Forschungs- und Musikinstrumente, Personal –, musste von Forschern des Instituts erstritten, eingeworben oder selbst finanziert werden. Weitere Schätze sind durch großzügige Schenkungen Dritter, Rettungsaktionen und Kriegsrückführungsmaßnahmen angehäuft und beforscht worden. Im Folgenden werden unterschiedliche, leicht quantifizierbare Beispiele von Hamburger Kämpfen um, Errungenschaften von und Früchte aus tragfähigen Arbeitsbedingungen beleuchtet.

1. „Viel zu prunkvoll für Studenten …“ – Zur Geschichte des Institutsgebäudes in der Neuen Rabenstraße
2. Wie kommt die Orgel in die Mensa?
3. Die MuWiBib – Mit lieben Grüßen von den Vorgängern
4. Die Sammlung ethnographischer Tonträger: Historische Entwicklung – archivarische Aufgaben – digitale Perspektiven
5. Musikalische Schätze der Staatsbibliothek – aus intensiver Verbindung von Forschung und Lehre geht der Online-Katalog der Hamburger Handschriften Johann Adolf Hasses hervor

Wie kommt die Orgel in die Mensa?

Von Bernhard Ruhl

Abbildung 1: Die Walcker-Orgel op. 376 im großen Hörsaal, Foto: Bernhard Ruhl

Beim Betreten der ehemaligen Mensa, dem heutigen großen Hörsaal (Raum 5), fällt der Blick unweigerlich auf die Orgel. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass dieses Instrument ursprünglich nicht für diesen Ort geplant war und auch älter als dieser ist. Wie gelangte es in die Neue Rabenstraße 13? Was ist das Besondere an diesem Instrument? Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst ein kurzer Rückblick auf die Anfänge der Ausbildung von Lehrern in Hamburg notwendig, weil hier der Ursprung ‚unserer‘ Orgel liegt. Danach wird auf die Orgel selbst und ihre Besonderheit eingegangen.

Orgelunterricht am Lehrerseminar

Um die Ausbildung der künftigen Lehrer zu vereinheitlichen und qualitativ zu verbessern, wurde am 6. April 1872 das erste Lehrerseminar Hamburgs mit ange­gliederter ‚Übungsschule‘ in der Binderstraße 34 eröffnet. Zu den ersten fünf Lehr­kräften dieses Lehrerseminars gehörten ein Musik- sowie ein Gesangslehrer.1 Der Musikunterricht war ein wichtiges Element in der Ausbildung der künftigen Volks­schullehrer. Während des Deutschen Kaiserreiches bis in den Zweiten Weltkrieg hinein waren Orgeln – zumindest an höheren Schulen – nicht ungewöhnlich. Sie spielten im Rahmen von festlichen Schulveranstaltungen und beim gemeinschaft­lichen Singen eine wichtige Rolle. Laut Stundenverteilungsplan vom 4. März 1873 erhielten einzelne Seminaristen Orgelunterricht.2 Wo und an welchem Instrument dieser erteilt wurde, konnte bislang nicht eruiert werden.

Das Gebäude in der Binderstraße 34 entsprach bald nicht mehr den wachsenden An­forderungen. 1893 fiel die Entscheidung, das bisherige Lehrerseminar durch einen Neubau am Grindelhof 80 (ebenfalls mit angegliederter Übungsschule) zu ersetzen.3 Dessen Einweihung erfolgte am 18. April 1895. Die Seminaristen erhielten hier weiterhin eine breit angelegte musikalische Ausbildung, die musiktheoretische Kenntnisse, (Chor-)Gesang sowie Geigenunterricht beinhaltete. Einige der angehenden Lehrer erhielten außerdem fakultativ Klavier- oder Orgelunterricht. Hierfür wurde eine eigene Orgel in Auftrag gegeben.

Der Vertrag über den Bau einer Orgel in Hamburg für ein „Neues Schullehrerseminar am Grindelhof“4 ist in den Werkbüchern der Orgelbaufirma E. F. Walcker & Cie. Ludwigsburg als Opus 736 verzeichnet (s. Abb. 2). Dieser Werkvertrag wurde am 24. April 1895 geschlossen; das fertige Instrument war bis zum 24. Oktober 1895 abzuliefern. Die Orgel war für den Einbau in einer Nische der Aula konzipiert.5 Die Kosten für das Instrument in Höhe von 3.500 Mark waren im Etat des Mobiliars für das neue Lehrerseminar eingeplant.6

Abbildung 2: Ausschnitt aus den Werkbüchern zu op. 736, Bestand B 123 Orgelbau Walcker, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart, fol. 318

Die Orgel hatte zwei Weltkriege unbeschadet überstanden. „Das Gebäude ging 1962 auf die Universität über, die es 1972 samt Orgel für einen Neubau abreißen wollte.“7 Der damalige Universitätsmusikdirektor Jürgen Jürgens setzte sich für den Erhalt des historisch wertvollen Instrumentes ein und erreichte, dass es 1972 von der Orgelbau­firma Klaus Becker (Kupfermühle bei Hamburg) abgebaut und in der Neuen Raben­straße 13 wieder aufgebaut wurde.8 Seither steht die Orgel frei im Raum; die Seiten und das Dach wurden hilfsweise durch Spanplatten abgedeckt. So kam die Orgel vom Lehrerseminar in die frühere Mensa, den heutigen großen Hörsaal der Musikwissenschaft.

Das Besondere ‚unserer‘ Orgel

Die Orgelbaufirma E. F. Walcker & Cie. Ludwigsburg war im 19. Jahrhundert eine der bedeutendsten Orgelbaufirmen, deren Anfänge in das Jahr 1780 zurückreichen. Im Zeitraum von 1880–1900 baute Walcker rund 500 Orgeln (op. 382 bis op. 883),9 darunter mehrere Instrumente unterschiedlicher Größen in Hamburg, u. a. die große Orgel von St. Petri (1885).10 Um das Besondere ‚unserer‘ Orgel zu verdeutlichen, ist ein kurzer orgelhistoriographischer Exkurs hilfreich.

Von der ‚barocken‘ zur ‚romantischen‘ Orgel und die Orgelbewegung

In der Barockzeit hatte die Kunst des Orgelspiels und -baus einen Höhepunkt erreicht; beides befruchtete sich wechselseitig. Der barocke Orgelklang zeichnet sich durch seine Brillanz und Klarheit aus. Die Palette der Fußlagen reichte von 32‘-Registern (deren längste Pfeifen eine Länge von etwa 10 m haben) bis zu 1‘-Registern, deren Pfeifen nur wenige Zentimeter groß sind. Diese wurden durch Aliquot11– und Soloregister sowie Mixturen12 ergänzt.

Die verschiedenen Spielebenen (Manuale/Pedal) spiegeln sich in der räumlichen An­ordnung der Pfeifengruppen, den Werken, wider, so etwa die seitlich vom Orgelpro­spekt platzierten Pedaltürme oder das in den Raum hineinragende Rückpositiv. Der barocke Werkprospekt war orgelbautechnisch bedingt, da sämtliche Verbindungen von den Registern bzw. Tasten zu den Orgelpfeifen auf rein mechanischem Weg er­folgten; zugleich ermöglichte dies gezielte akustische Effekte.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wandelte sich die bisherige Stufendynamik zu einer ‚stufenlosen‘ und der Orchesterklang wurde vielfarbiger durch neu- bzw. weiterentwickelte Instrumente. Die Idee, die Orgel solle die dynamischen sowie klanglichen Möglichkeiten eines Orchesters nachahmen und gleichsam zu einem ‚Ein-Mann-Orchester‘ werden, stand im deutlichen Kontrast zur barocken Orgel.13 Grundtönige 8‘-Register traten in den Vordergrund und wurden vermehrt – anders als in der Barockzeit – miteinander kombiniert; kleinfüßige Register und Aliquote zurückgedrängt, das Rückpositiv entfiel.14

Um die geänderten Klangvorstellungen auf der Orgel zu realisieren, bedurfte es neuer technischer Mittel. Schwellwerke ermöglichten die stufenlose Veränderung der Lautstärke.15 Der Wunsch nach immer mehr Registern16 stieß angesichts der damit verbundenen spiel- und bautechnischen (mechanischen) Probleme bald an Grenzen. Orgelbauer wie Aristide Cavaillé-Coll in Frankreich, Eduard Friedrich Walcker, Friedrich Ladegast u. a. in Deutschland entwickelten deshalb wichtige orgelbautechnische Lösungen.

Pneumatische Register- und Spieltrakturen (πνεῦμα – der Hauch) ersetzten mecha­nische Auslösevorgänge durch Luftimpulse; an die Stelle hölzerner Verbindungen (Abstrakten) traten flexible dünne (Blei-)Rohre. Dies reduzierte Baukosten, ließ neue Prospektgestaltungen zu, erleichterte die Spielbarkeit auch bei einer Vielzahl gezogener Register sowie den Einsatz neuer Spielhilfen. Dies führte zu neuen Formen konzertanter Orgelmusik, die ihrerseits den Orgelbau inspirierten.

Anfang des 20. Jahrhunderts setze eine Rückbesinnung auf das barocke Klangideal und die damit verbundene Spiel- und Registrierkunst ein (Orgelbewegung), in deren Folge sehr viele romantische Orgeln umgebaut und ‚barockisiert‘ wurden. Parallel hierzu verlor die ‚romantische‘ Orgelmusik bis in die 1970er Jahre hinein ihre Bedeutung im Konzertleben.17 So blieben – unabhängig von Kriegsschäden – nur wenige romantische Instrumente original erhalten, was diese umso wertvoller macht.

‚Unsere‘ Walcker-Orgel op. 736 verfügt über 14 Register, die sich auf zwei Manuale und das 27tönige Pedal verteilen. Die Registerzüge befinden sich beidseitig am Spiel­tisch in Registerstaffeleien. Die Disposition der Orgel ist für die Epoche der Romantik typisch und grundtönig. Die Orgelpfeifen sind teils aus Holz gefertigt; metallene überwiegend aus 12lötigem Zinn, einer Legierung aus 75 % Zinn und 25 % Blei. Der bereits erwähnte Auszug aus den Werkbüchern enthält u. a. detaillierte Angaben zur Ausstattung der Orgel sowie den Materialien.

Abbildung 6: Ausschnitt aus einer Entwurfszeichnung zu op. 736, Bestand B 123 Orgelbau Walcker, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart

Die Seitenansicht der Entwurfszeichnung zeigt die Anordnung der Register auf den Windladen (s. Abb. 6). Die Windladen der Manuale sind auf einer Ebene angeordnet, die des Pedals ist ein wenig tiefer dahinter positioniert. Ursprünglich erfolgte die Windversorgung durch ein „Gebläse mit Compensationsfaltenreservoir und Schöpfern mit mechanischem Getriebe (vorgesehen für Motorbetrieb)“ (s. Abb. 7).18 Der Motor befand sich in einem separaten Raum hinter der Orgel.

Abbildung 7: Ausschnitt aus den Werkbüchern zu op. 736, Bestand B 123 Orgelbau Walcker, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart, fol. 324

Der Orgelprospekt ist neo-romanisch gestaltet und wurde bauseits gestellt. „Prospekt von C. G. Marl hier“ heißt es im ‚Bautagebuch‘.19 In den „Rundbogenfeldern mit glatten Lisenen“20 stehen die von Walcker gelieferten nicht-klingenden Blindpfeifen. Die Front ist mit Pilastern (dekorative Säulen ohne statische Funktion) und weiteren Elementen verziert. Das gesamte Pfeifenwerk befindet sich hinter einem die gesamte Orgel abdeckenden Jalousieschweller, der per Schwelltritt geöffnet oder geschlossen wird. Koppeln sowie piano und forte-Einstellungen sind als Druckknöpfe unter dem Manual I vorhanden. Die Orgel war in der „Pariser Temperatur“21 (a‘ = 435 Hz) gestimmt. Mit ihren pneumatischen Kegelladen22 und ebensolchen Spiel- sowie Registertrakturen (s. Abb. 8) entsprach das Instrument dem damals neuesten Stand der Orgelbaukunst.

Abbildung 8: Ausschnitt aus den Werkbüchern zu op. 736, Bestand B 123 Orgelbau Walcker, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart, fol. 322

Im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau in der Neuen Rabenstraße 13 wurde die Orgel generalgereinigt und Bleirohre durch Plastikschläuche ersetzt. Die Windversor­gung wird seither „durch eine elektrische Gebläsemaschine sichergestellt“23. Die nächste Generalüberholung und Instandsetzung wurde 1992 dem Orgelbaumeister Heinz Hoffmann (Hamburg) übertragen. Die räumlichen Bedingungen sowie nur sporadisch durchgeführte Wartungsarbeiten ließen die Orgel im Laufe der Zeit unspielbar werden. 2015 erhielt die Rudolf von Beckerath Orgelbau GmbH (Hamburg) den Auftrag, eine Generalreinigung und die wichtigsten Überholungsarbeiten durchzuführen; eine weitergehende Restauration erfolgte nicht.24

Der Orgelsachverständige Günter Seggermann schrieb am 29. August 1992, ‚unsere‘ Orgel sei eine von drei Walcker-Orgeln des Zeitraumes 1880–1900, die weitestgehend original erhalten geblieben seien.25 Dies macht sie historisch wertvoll und zu etwas Besonderem, das es zu erhalten, zu pflegen und zu spielen gilt.

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Die MuWiBib – Mit lieben Grüßen von den Vorgängern

Von Katrin Friese

„Die Bibliotheken sind das Gedächtnis der Menschheit, die Brücken aus der Vergangenheit in die Zukunft, die Grundlagen und Instrumente der wissenschaftlichen Forschung…“1, sagte Wilhelm Hoffmann im Vorwort zum ersten Gutachten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Auch in unserem Institut zeugt eine Musikwissenschaftliche Präsenzbibliothek (MuWiBib) von den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen2, die früher hier lehrten, sich in ihren Publikationen verewigt und den heutigen Studierenden einen Schatz an Materialien zu ihren jeweiligen Forschungsgebieten hinterlassen haben. Neben bedeutenden Wissenschaftlern haben sich in der Bibliothek auch Musikerpersönlichkeiten und Privatleute verewigt, deren Sammlungen und Nachlässe hier vor dem Vergessen bewahrt werden. Die Bücher, Zeitschriften und Sammlungen dienen den heutigen Studierenden nicht nur als Lehrmaterial, sondern bieten auch die Möglichkeit, schon während des Studiums an aktiver Forschung teilzuhaben.

Leider wissen die wenigsten Studierenden, wem sie all dies zu verdanken haben. Um diese Lücke zu füllen, gibt der erste Teil dieses Artikels einen Überblick darüber, wie die MuWiBib anfangs aus Notenheften der Universitätsmusik entstanden ist und wer entscheidende Beiträge zu ihrem Aufbau bis zu ihrer heutigen Größe geleistet hat. In einem zweiten Teil dient die Beschreibung der Schallplattensammlung des Hamburger Musikkritikers Werner Burkhardt als Beispiel dafür, wie Forschung und Lehre an unserem Institut ineinander greifen und den Studierenden so ein praxisnahes Lernen ermöglichen.

Abbildungen 1-3: Räume der Musikwissenschaftlichen Präsenzbibliothek, Fotos: Katrin Friese

Wer schreibt, der bleibt: Von den ersten Notenheften bis zur Präsenzbibliothek

Die musikwissenschaftliche Bibliothek wurde erstmals in einem Brief an die Hausverwaltung der Universität Hamburg erwähnt. Mit der Gründung des Universitäts-Musikinstituts als Teil des Seminars für Erziehungswissenschaften sollte 1934 die praktische Musikpflege und die Ausbildung der Lehrer gewährleistet werden.3 Im Rahmen der Einrichtung der Räume für das neue Institut schrieb ein unbekannter Verfasser4 am 29. Oktober 1934, dass für den Hörsaal N zwei verschließbare Bücher- bzw. Notenschränke möglichst mit Glastüren benötigt würden. Diese sollten mit den Schildern ‚Orchesterbibliothek‘ und ‚Chorbibliothek‘ versehen sein. Außerdem bat er um Bücherborde an den Wänden und wies darauf hin, dass sich um die Anschaffung eines Plattenschrankes für Schallplatten anderweitig gekümmert werde.5 Im Anschluss wurde ein Schrank für beide Bibliotheksteile gemeinsam beantragt6 und für 472 RM am 11. Januar 1935 in Auftrag gegeben.7 Dr. Walter Vetter, der am Universitäts-Musikinstitut als Lehrbeauftragter für Musikgeschichte und -theorie angestellt war, begann zusammen mit dem Leiter des Musikinstituts Dr. Hans Hoffmann die Sammlung, welche im Laufe der Zeit zu der heutigen Bibliothek heranwuchs. Im Januar 1940 enthielt die Bibliothek auf diese Weise bereits Literatur zu folgenden Themenbereichen:8

• Lexika

• Musikgeschichte

• Musiklehre (Harmonielehre und Kontrapunkt)

• Ästhetische Schriften, Biographische Schriften

• Veröffentlichungen und Zeitschriften zum Thema Musikpädagogik und Volksliedkunde

• Denkmäler-Ausgaben und Gesamtausgaben

• Klavierauszüge von bekannten und seltenen Opern

• Wichtige Klavier- und Cembalowerke

• Chor- und Instrumentalliteratur

Dr. Hans Joachim Therstappen legte als nachfolgender Lehrbeauftragter und späterer kommissarischer Leiter des Universitäts-Musikinstituts (s. Beitrag zu „Hans Joachim Therstappen“) besonderen Wert darauf, dass musikgeschichtliches Quellenmaterial (z. B. Briefe von Hans von Bülow) hinzukamen. Die Studierenden sollten so unmittelbare Eindrücke der Wirkung von Werken verschiedener Epochen bekommen.9

Zeitgleich mit dem Universitäts-Musikinstitut wurde die Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaften gegründet (s. Beitrag „Wie alles begann“). Die von Prof. Dr. Wilhelm Heinitz geleitete Forschungsabteilung gehörte zum Phonetischen Laboratorium, das langjährig von Prof. Dr. Giulio Panconcelli-Calzia geleitet wurde, sodass beide Einrichtungen sich in denselben Räumlichkeiten im Mittelweg 90 befanden. Da die Zusammenarbeit unter starken interpersonellen Spannungen litt (s. Beitrag zu Heinitz’ „Etablierung eines neuen Forschungszweiges“), fungierte die Oberschulbehörde Hamburg (Abteilung für Hochschulwesen) häufig als Vermittler. Die Uneinigkeiten ließen sich nicht beilegen, sodass Heinitz 1949 letztlich eine Beendigung der Zusammenarbeit bevorzugte. Im Rahmen von Heinitz’ Auszug aus dem Mittelweg 90 führte er in einem Briefwechsel mit der Abteilung für Hochschulwesen unter anderem den Inhalt der gemeinsamen Bibliothek auf, der mit Geld des phonetischen Laboratoriums gekauft worden sei, weil die Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft nicht die finanziellen Möglichkeiten gehabt habe.10 Heinitz zählte in diesem Zusammenhang folgende Bibliotheksbestände auf:11

Die musikwissenschaftliche Lichtbildsammlung

Die Bibliothek samt Noten und Partituren

Sämtliche Schallplatten und e-Aufnahmen, bestehend aus der ehemaligen Heinitz-Sammlung, vom Rundfunk überlassene Platten, Trommelsprachplatten und eine von ihm in Kairo mitaufgenommene Sammlung und der Westermannsammlung.

Da die Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft 1947 vom Phonetischen Laboratorium getrennt und dem Musikinstitut zugeteilt wurde,12 ist anzunehmen, dass die von Heinitz aufgezählten Bibliotheksbestände mit in die heutige Musikwissenschaftliche Bibliothek eingeflossen sind.

Nachdem Dr. Heinrich Husmann 1948 zunächst kommissarisch die Nachfolge von Therstappen antrat, wurde er 1949 zum außerplanmäßigen Professor und Leiter des Musikwissenschaftlichen Instituts ernannt.13 Nach fast zehn Jahren Dienst in dieser Position erhielt er einen Ruf nach Göttingen, der einen maßgeblichen Einfluss auf den Bestand der Musikwissenschaftlichen Bibliothek haben sollte. Im Rahmen der Ruf-Nachverhandlungen brachte er 1958 eine Liste in eines der Verhandlungsgespräche ein, die zur erheblichen Aufstockung des Bestandes der Denkmäler- und Gesamtausgaben der Bibliothek führte (s. Abb. 4–18).

Abbildungen 4-18: Heinrich Husmann, Liste wissenschaftlicher und praktischer Aufgaben, Staatsarchiv Hamburg, 361-6 IV_1873

Zur Deckung des Nachholbedarfs forderte er zudem eine Aufstockung des Sach-Etats von 3.500 DM auf 8.000 DM und eine einmalige Zuwendung von 50.000 DM. Außerdem forderte er die Herausgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift,14 deren Anschaffung im Gegensatz zu den zuvor genannten Forderungen jedoch nicht realisiert wurde.

Seit diesen Tagen ist die Musikwissenschaftliche Bibliothek stetig gewachsen. Im Februar belief sich der Bibliotheksbestand auf 25.221 Bücher, 5.885 CDs, 8.422 Schallplatten (davon ca. 1.900 Schellackplatten), 96 laufende Zeitschriftenabonnements, 14.974 Notenbänden, 107 Tonbänder, 217 DVDs, 103 VHS-Kasetten sowie 367 MCs und einige DAT-Kassetten.15 Die genaue Entwicklung der Bibliothek zwischen den genannten Zeitpunkten ist anhand der Zugangsbücher nachzuvollziehen, die vor Ort eingesehen werden können.

Der individuelle Charme unserer Bibliothek: Nachlässe mit Seltenheitswert

Diverse Nachlässe und Sammlungen ergänzen die Bestände der Bibliothek und machen sie zu einer wahren Schatzkiste. Hierbei handelt es sich um Sammlungen ehemaliger Lehrkräfte und um Nachlässe von privaten Sammlern, die dem Institut zugetan waren. Folgendes wird auf diese Weise vor dem Vergessen bewahrt:

Briefwechsel zwischen Reinhard Vollhardt16 und weiteren Musikerpersönlichkeiten seiner Zeit

Eine Sammlung musikethnologischer Schellackplatten von Prof. Dr. Wilhelm Heinitz (s. Beitrag zur „Sammlung ethnographischer Tonträger“)

Bücher und Liederbücher zu Musik im Dritten Reich sowohl von Prof. Dr. Reinhold Brinkmann17 als auch von Harry Hahn18

Eine genreübergreifende Schallplattensammlung von Werner Burkhardt

Eine weitere Schallplattensammlung zum Thema Jazz und Swing von Günter Schrage19

Druckerzeugnisse, Musikhandschriften, Notenautographe und Briefwechsel mit Musikerpersönlichkeiten von Dr. Herbert Hübner20 (in der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky untergebracht, da die Sammlung einer speziellen Lagerung bedarf)

Originaldokumente von wissenschaftlichen Arbeiten und Briefen von Dr. Julius Bahle21

Die Hamburger Hasse-Handschriften (ebenfalls in der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky untergebracht) (s. Beitrag „Musikalische Schätze der Staatsbibliothek“)

Sammlungen und Nachlässe werden jedoch im Musikwissenschaftlichen Institut nicht nur aufbewahrt, sondern auch genutzt, um Studierende aktiv in Forschungsarbeiten mit einzubinden. Ein Beispiel hierfür ist die Plattensammlung des Hamburger Musikkritikers und –publizisten Werner Burkhardt.

Exkurs: Der Musikredakteur und -publizist Werner Burkhardt

Werner Burkhardt wurde 1928 im Grindelviertel in unmittelbarer Nähe des Musikwissenschaftlichen Instituts geboren.22 Seine Karriere begann 1952 bei der Welt und setzte sich im Hörfunk fort. Beim NDR machte Burkhardt den sehr beliebten „Pop-Kommentar“ und arbeitete von 1970 an fast 40 Jahre lang als „Botschafter nordischer Kultur“ für die Süddeutsche Zeitung.23 Er übersetzte eine Billie Holiday-Biographie24 und schrieb noch 2002 ein Buch mit dem Titel Klänge, Zeiten, Musikanten – Ein halbes Jahrhundert Jazz, Blues und Rock. 1998 wurde Burkhardt anlässlich seines 70. Geburtstags mit der Biermann-Fatjen-Medaille vom Hamburger Senat geehrt.25 In seiner Arbeit gab es für ihn dabei weder eine Unterscheidung noch eine Wertung zwischen U- und E-Musik, sondern stets nur „Gutes“ oder „Schlechtes“. Burkhardt war bei Kollegen dafür bekannt, dass er alle Genres gleich schätzte und dadurch Maßstäbe setzte.26 In seinen Nachrufen wird er als einer der letzten Allroundkritiker beschrieben, der kompetent über Jazz, Theater, Klassik und Oper schreiben konnte.27 Geachtet und gefürchtet für seine Ehrlichkeit und seinen Schreibstil, „gehörte [Burkhardt] unverzichtbar zum Hamburger Kulturleben – und zum niveauvollen Nachdenken darüber erst recht“.28 Er starb am 20. August 2008 in seiner Wohnung im Grindelviertel.29 Teil seines Nachlasses war eine Sammlung von zunächst auf ca 8.000 geschätzegenreübergreifenden Schallplatten.30 Der größte Teil seiner Sammlung ging mit Werner Burkhardts Tod offiziell in das Eigentum des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Hamburg über31 und beläuft sich tatsächlich auf fast 10.000 Titel.32

Werner Burkhardts Plattensammlung zieht in das Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg

Die Plattensammlung von Burkhardt ist heute Eigentum des Musikwissenschaftlichen Instituts. Dieser Umstand ist einem sehr glücklichen Zufall zu verdanken. Die Sammlung sollte schon zu Burkhardts Lebzeiten ein Zuhause bekommen und 1996 zusammen mit der Instrumentensammlung des damaligen Hamburger Generalmusikdirektors Gerd Albrecht im Instrumentenkundemuseum in der Musikhalle Hamburg33 untergebracht werden. Laut dem Geschäftsführer der Musikhalle, Benedikt Stampa, war dies jedoch nicht möglich, da die Sammlung einer musikologischen Aufarbeitung bedürfe, welche die Musikhalle leider nicht leisten könne. Eine sachgemäße Aufarbeitung würde einen sechsstelligen Betrag kosten und daher würde die Sammlung eher in die Universität passen.34 Burkhardt äußerte, dass er zwar Verständnis für die Problematik der Unterbringung von 8.000 Platten habe, er aber fassungslos über die wohl unendliche Geschichte der Zweiklassengesellschaft in der Musik sei.35 Antje Hinz36 und ein nicht zu identifizierender Verfasser lasen in einem Artikel des Hamburger Abendblatts vom 4. Mai 1996 von diesem Umstand und hatten einen Einfall zur Lösung des Problems.

Abbildung 20: Fax Antje Hinz, 4. Mai 1996.

Noch am gleichen Tag schickten sie den Artikel per Fax an das Musikwissenschaftliche Institut. Sie vermerkten, dass die Platten doch sicherlich eine musikgeschichtliche Lücke des Instituts füllen könnten, wenn sich ein Sponsor fände, der die Vergrößerung des Schallarchivs bezahle. Auf dem Fax wurde daraufhin mit Bleistift errechnet, dass der Umbau ca. 19.200 DM kosten würde.37 Am 3. Juli 1996 wurde vom Referendariat für Bau- und Investitionsplanung der Universität Hamburg die Bestätigung eingeholt, dass man den Vorraum von Raum 08 schallplattengerecht umbauen könne.

Nach einem Besichtigungstermin mit Burkhardt überließ dieser schließlich den größten Teil seiner Sammlung dem Musikwissenschaftlichen Institut.38 Nachdem der Vorraum zu Raum 08 umgebaut und mit 39 Regalmetern für Schallplatten ausgestattet war,39 zogen die Schallplatten40 am 7. März 1997 unter tatkräftiger Hilfe von elf Freiwilligen aus der Studentenschaft von der Grindelallee in die Neue Rabenstraße.41 Am 11. April 1997 zog außerdem die Instrumentensammlung von Albrecht in die Hamburger Musikhalle ein. Ergänzend zu der Ausstellung der Instrumentensammlung wurden ausgewählte 100 Stunden von Burkhardts Schallplatten auf CD überspielt, die auf dem sogenannten Burkhardt-Computer abrufbar waren.42 Nach Absprache mit Werner Burkhardt fand zudem eine größere Anzahl an Shakespeare-Platten ihren Weg in das Englische Seminar der Universität.43

Von nun an war es das Ziel des Instituts, die Platten bis 1998 zu inventarisieren44 und bis 2001 voll zu katalogisieren. Dabei kamen zwischen 1999 und 2001 insgesamt 635 studentische Hilfskraftstunden zum Einsatz.45 Zudem wurde im Jahr 2000 ein innovatives Tutorium von Prof. Dr. Helmut Rösing, Professor für Systematische Musikwissenschaft am Institut, und der Bibliotheksleitung Brigitte Adler ins Leben gerufen, das durch die Behörde für Wissenschaft und Forschung gefördert wurde.46 Das Tutorium verfolgte das Ziel, durch die Sichtung und Aufarbeitung der Burkhardt-Sammlung die Eigenarbeit und Selbstorganisation der Studierenden zu fördern. In zwei Semesterwochenstunden sollte über drei Semester hinweg eine Herangehensweise für die Aufarbeitung, die inhaltliche und die formale Erschließung entwickelt und ein gemeinsamer Bericht mit dem Tutor verfasst werden.47 Zudem fanden Lehrveranstaltungen zur thematischen Aufarbeitung der einzelnen Genres statt.48

Mithilfe von zusätzlichen Arbeitskräften konnte das Musikwissenschaftliche Institut bis 2001 also einen großen Teil der Sammlung katalogisieren, der über den Bibliothekskatalog für die Öffentlichkeit recherchierbar ist.49 Der Rest des Nachlasses harrt noch seiner abschließenden Katalogisierung. Werner Burkhardt hat die Schallplattensammlung in seinem Testament vom 31. Dezember 1998 (eröffnet am 24.9.2008) vermacht.50 Seit Prof. Dr. Friedrich Geiger im Namen des Instituts am 28. November 2008 schriftlich die Annahme des Testaments erklärt hat, gehört die Sammlung offiziell zum Besitz des Musikwissenschaftlichen Instituts.51

Bibliotheken: Orte zum Innehalten, Erinnern, Be-greifen

In Zeiten der Digitalisierung verliert das wissenschaftliche Arbeiten und studentische Lernen zunehmend an sinnlichen Eindrücken – sie werden häufig zu virtuellen Angelegenheiten. Durch die Verfügbarkeit und Zeitlosigkeit von digitalen Texten und Musik wird schnell übersehen, wer sie geschrieben hat und wie alt viele schon sind. Aber muss man nicht manches erst be-greifen, um wirklich zu verstehen? Sind es nicht gerade Sinneseindrücke, die helfen, sich an etwas zu erinnern? Orte wie die Musikwissenschaftliche Bibliothek laden Studierende und Lehrende ein, still zu werden und im Hier und Jetzt anzukommen. Der Geruch und das Gefühl von altem Papier oder allein der Anblick von 39 Regalmetern voller Schallplatten erinnern an vergangene Zeiten und die Menschen, ohne die das Musikwissenschaftliche Institut heute andere Arbeitsbedingungen hätte. Allein dafür lohnt es sich Bibliotheken und Sammlungen zu erhalten. Und wer weiß, vielleicht hält der eine oder andere manchmal inne und denkt „Danke, Wilhelm Heinitz!“, „Danke, Heinrich Husmann!“ oder auch „Danke, Werner Burkhardt!“.

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Musikalische Schätze der Staatsbibliothek – aus intensiver Verbindung von Forschung und Lehre geht der Online-Katalog der Hamburger Handschriften Johann Adolf Hasses hervor

Von Mareike Aldag

In den 1990er Jahren wurde in Kooperation des Musikwissenschaftlichen Instituts mit der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg über sieben Jahre eine Reihe von zwölf Seminaren durchgeführt, in der Studierende den hiesigen Handschriften-Bestand von Werken Johann Adolf Hasses (1699–1783) beschrieben und in einem Online-Katalog der Öffentlichkeit zugänglich machten. Entscheidend für den Entschluss, die ‚Hamburger Hasse-Handschriften‘ in einer Seminarreihe zu erforschen, war das Jahr 1991: Durch glückliche politische Umstände kamen aus St. Petersburg zahlreiche im Zweiten Weltkrieg ausgelagerte Musikalien zurück in den Besitz der Hamburger Staatsbibliothek. Darunter befanden sich auch ein Großteil der Bestände des 1699 in Bergedorf bei Hamburg geborenen Komponisten (s. Abb. 1).

Abbildung 1: Johann Adolf Hasse, L’Artaserse, Abschrift (1740), Bd. 1, D-Hs ND VI 2927, fol. 19 r.

Nach dem nun folgenden Abriss über die Geschichte dieser Handschriften soll das Projekt des „Hasse-Kataloges“ in all seinen Facetten vorgestellt werden.

Auslagerung im Zweiten Weltkrieg

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges veranlasste Gustav Wahl, damaliger Direktor der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, die Auslagerung der wertvollsten Bestände in Luftschutztürme wie das Turmgewölbe von St. Michaeli und drei weitere, vermeintlich sichere Orte. Nach der Flächenbombardierung Lübecks im März 1942 wurde die Auslagerung seltener Bestände dann in viel größerem Stil als zuvor und an entlegenere Orte geplant. Im April 1943, drei Monate vor der Operation Gomorrha, die Hamburg in Schutt und Asche legte, wurde eine Lieferung von 287 Kisten in das als „auswärtiger Magazinraum“ bereitgestellte Schloss Lauenstein in Sachsen gebracht.1 Neben vielen anderen wertvollen Drucken und Inkunabeln2 wurden so auch etwa 1.300 Musikhandschriften gesichert, darunter ein Großteil der Hamburger Handschriften von Hasses Werken. Bis zum Kriegsende blieb dieser ausgelagerte Bestand und damit die Hasse-Handschriften (= Hassiana) unversehrt im Schloss Lauenstein, bis die Rote Armee ihn Anfang Februar 1946 auf Befehl der sowjetischen Trophäen-Kommission beschlagnahmte und nach Berlin brachte. Von hier aus wurde ein Gesamtbestand von 1,2 Millionen Bänden Kulturgut aus der sowjetischen Besatzungszone nach Russland überführt.3

Rückführung aus St. Petersburg

Die Musik-Handschriften dieser 287 Kisten mit wertvollsten Beständen der Staatsbibliothek – insgesamt 1.200 Partituren, 15.983 Orchester- und Vokal-Stimmen und 100 Kapseln mit jeweils 200 Partiturautographen – wurden, nachdem sie im August 1946 in St. Petersburg ankamen, zunächst in einem Reserve-Magazin der heutigen Russischen Nationalbibliothek untergebracht und 1948 an das Staatliches Institut für Theater, Musik und Film N. K. Cerkasov abgegeben. Im Herbst 1983 fand man die in einem Kellerraum verwahrten Musikalien wieder – nur war der Raum überschwemmt und die gesamte Sammlung schimmelpilzbefallen und zum Teil erheblich beschädigt.4 Das führt einmal mehr vor Augen, welch glücklichen Umständen es zu verdanken ist, dass diese Musikhandschriften in den 1990er Jahren von angehenden Hamburger Musikwissenschaftlern bearbeitet werden konnten.

Infolge des sich bereits seinem Ende neigenden Zerfalls der Sowjetunion5 wurde die Staatsbibliothek über das deutsche Generalkonsulat in Leningrad 1990 über die Musikalien im Staatlichen Institut für Theater, Musik und Film N. K. Cerkasov informiert; die Rückgabe von etwa 2.000 Bänden, darunter auch die Hassiana, wurde mit einem offiziellen Akt im Hamburger Rathaus begangen.6

Exkurs – Friedrich Chrysanders und Otto Jahns Hasse-Leidenschaft

Dass die Hasse-Handschriften überhaupt erst ihren Weg nach Hamburg gefunden haben, ist vor allem dem Händel-Forscher Friedrich Chrysander (1829–1901) und dem Mozart-Biographen Otto Jahn (1813–1869) geschuldet. Jahn und Chrysander haben in den 1850er und 1860er Jahren eine Art Wettstreit des Erwerbs von Hasse-Handschriften ausgetragen. Aus dem Nachlass dieser beiden Sammler von historischen Musikhandschriften und -drucken erhielt die heutige Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg dreimal große Bestände an Musikalien, worunter sich auch jedes Mal Hassiana befanden. Die Hasse-Handschriften, die beide antiquarisch erwarben, lassen sich wiederum zu einem großen Teil nach Dresden zurückverfolgen, ein Ort, an dem Hasse langjährig tätig gewesen ist.7

Der verhältnismäßig große Hamburger Bestand an Hassiana ist also mit den Sammelaktivitäten zweier privater Musikforscher und -sammler zu begründen, weniger mit Hasses Geburtsort Bergedorf.

Das Geschäft angehender Philologen

Nachdem die vielen, lange als „spurlos verschollen“8 geltenden Handschriften aus St. Petersburg 1991 nach Hamburg zurückgekehrt waren, rissen sich Forscher förmlich darum, das neue Forschungsmaterial nach über 45 Jahren Abhandensein bearbeiten zu können.

Mit genau diesem Anliegen traf Prof. Dr. Hans Joachim Marx, damaliger Professor für Historische Musikwissenschaft der Universität Hamburg, mit dem 1993 gerade neu an der Staatsbibliothek angestellten Musikbibliothekar Dr. Jürgen Neubacher auf einen engagierten Partner, der vor seiner Bibliothekslaufbahn in Mainz als Musikwissenschaftler promoviert wurde.9 Gemeinsam entwickelten sie das Konzept eines Seminars, in dem die Studierenden eine Auswahl aus den 1991 rückgeführten Musikalien (die Konzentration auf Hasse war noch nicht vorgenommen worden) beschreiben sollten, um diese in einem Katalog der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Einerseits konnte so der wissenschaftliche Nachwuchs mit einbezogen werden, andererseits war damit schlicht ein Mehr an Arbeitskraft und -zeit gewonnen, um die Menge an Handschriften zu erschließen. Es sollte schnell begonnen werden: In der Ratssitzung des Musikwissenschaftlichen Instituts im April 1993 wurde nachträglich noch das Seminar mit dem Titel „Die ‚Petersburger‘ Musik-Handschriften“ für das Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1993/94 ergänzt.10

Die Seminare fanden nach den Öffnungszeiten direkt im Handschriftensaal der Staatsbibliothek statt.11 Jeder Studierende bekam direkt zu Beginn des Semesters eine Handschrift, deren intensive philologische Beschreibung die Studienleistung war.

Zur Veranschaulichung sehen Sie hier eine solche Studienleistung, die die Handschrift der Oper Artaserse beschreibt (s. Abb. 2–6);12 aus der beschriebenen Opernhandschrift stammt auch der oben zu sehende Ausschnitt (s. Abb. 1). Festgehalten werden u. a. die Schriftbilder der verschiedenen Schreiber, die an dieser mehrbändigen Handschrift gearbeitet haben.13

Abbildungen 2–6: Saskia Maria Woyke, Beschreibung D-Hs ND VI 2927 (Studienleistung)

Der „Seminar-Alltag“ war erfüllt von gemeinsamer aktiver Arbeit an den Handschriften und damit einhergehend Vorstellungen von Zwischenergebnissen seitens der Studierenden. Zusätzlich wurden sowohl von Neubacher und Marx, als auch von den Studierenden Vorträge über fachliche Hintergründe gehalten, wie beispielsweise über Wasserzeichen oder Hasses Dresdener Kompositionsbedingungen.

In den ersten Veranstaltungen stellte sich aber ein Problem heraus: Die Werke, die von den Studierenden bearbeitet wurden, kamen anfangs noch aus ganz unterschiedlichen Gattungen (wie Oper, Kantate, Messen, oder reine Instrumentalmusik wie Toccaten), von unterschiedlichen Komponisten und aus unterschiedlichen Epochen. Aus solch disparaten Beschreibungen einen stringenten Katalog, online oder gedruckt, zu generieren, schien nicht möglich. Die Entscheidung, den Komponisten Johann Adolf Hasse als Fokus für einen Katalog zu wählen, ging dabei aus den Seminarsitzungen selbst, aus der Diskussion zwischen Studierenden und Dozenten hervor.14 Gleichzeitig mit der Konzeption des Handschriftenseminars in der Ratssitzung von April 1993 wurde außerdem ein Hauptseminar, ebenfalls unter der Leitung von Hans Joachim Marx, in das Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1994 eingetragen, das den Titel „Die Dresdner Hofmusik und Johann Adolf Hasse“ trug.15 Dies wird auf eine erste Sichtung der 1991 rückgeführten Handschriften zurückzuführen sein und mag zur Schwerpunktwahl des „Petersburger Musikhandschriften“ Seminars beigetragen haben.

Von der Seminararbeit zum öffentlichen Hasse-Katalog

Aus den Seminarleistungen der Studierenden ging der heute online zugängliche Hasse-Katalog von allen rund 85 Hassiana der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek hervor. Diese als Seminarleistung angefertigten Beschreibungen wurden von Roland Dieter Schmidt-Hensel und Wiebke Holberg redigiert. Schmidt-Hensel blieb als Studentische Hilfskraft auch nach der Seminarreihe eng mit dem Projekt verbunden.16 Weitere Hassiana, die erst 1998 ihren Weg aus Armenien zurück nach Hamburg gefunden hatten,17 wurden von Neubacher, Schmidt-Hensel und Marx selbst bearbeitet.18 2003 waren die redaktionellen Arbeiten dann größtenteils abgeschlossen.19

Auch diese heute direkt im Katalog unter der Signatur ND VI 2927 zu findende Version der schon oben stehenden Studienleistung von Woyke redigierte Schmidt-Hensel (s. Abb. 7–12)20:

Abbildungen 7–12: Saskia Maria Woyke, Beschreibung D-Hs ND VI 2927 (Online-Katalog)

Online ging der Katalog nach den letzten Überarbeitungen allerdings erst 2006 – zeitgleich erschien der 6. Band der Hasse-Studien, der sich auf den Hamburger Hasse-Katalog bezieht. Unter den Autoren der Beiträge sind mit Schmidt-Hensel und Hansjörg Drauschke auch zwei ehemalige Teilnehmer der Seminarreihe vertreten.21

Aus dem Blickwinkel der Studierenden

Dieses in die Lehre getragene Forschungsprojekt, das offenkundig mit einer Publikation abgeschlossen werden sollte, setzte genau dadurch eine gewisse Ernsthaftigkeit der Studierenden voraus. Dieses greifbare Ergebnis für die wissenschaftliche Öffentlichkeit war vielleicht auch ausschlaggebend und Anreiz dafür, überhaupt an diesem Seminar teilzunehmen. Gerade die Seminarbesucher der ersten zwei bis drei Semester waren, wie oben erwähnt, maßgeblich an der Konzeption des späteren Katalogs beteiligt.

Zudem ist auffällig, dass fast die Hälfte der Studierenden das Seminar zu den „Petersburger Musikhandschriften“ ein weiteres Mal belegte und mehr als eine Handschrift katalogisiert hat, was für eine anhaltende Begeisterung sprechen kann.22 Nicht zuletzt ist der Erfolg eines solchen Forschungsprojektes in Form einer Seminarreihe darin zu messen, ob die beteiligten Studierenden in der Thematik weiterhin tätig sind. In dieser Hinsicht war die Seminarreihe zu den „Petersburger Musikhandschriften“ bemerkenswert erfolgreich. Folgende Studierende blieben der Thematik ‚treu‘:

Roland Dieter Schmidt-Hensel promovierte nach seiner redaktionellen Arbeit am Katalog 2004 bei Marx über Hasses Opere Serie.23 Er arbeitet seit 2008 als stellvertretender Abteilungsleiter in der Musikabteilung der Staatsbibliothek Berlin.24

Hansjörg Drauschke ist heute an der Universität Halle tätig, wo er 2016 mit einer Arbeit über die Opern Johann Matthesons promovierte. Seine Schwerpunkte sind somit die Hamburger Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts und Edition; gerade letzteres liegt als ebenfalls philologische Arbeit nah bei der Katalogisierung.25

Saskia Maria Woyke, von der die hier gezeigte Beschreibung von Hasses Artaserse stammt, hat ihre Magisterarbeit 1997 über die Sängerinnenkarriere Faustina Bordonis (Hasses Ehefrau) geschrieben und diese 2010 zur Monographie Faustina Bordoni. Biographie, Vokalprofil, Rezeption erweitert. Außerdem war Woyke wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Hasse-Archiv und der Hasse-Gesellschaft Bergedorf, und ist damit zusammen mit Roland Dieter Schmidt-Hensel am umfangreichsten in dieses Projekt involviert gewesen. Sie ist seit mehreren Jahren stellvertretende Vorsitzende der Johann Adolf Hasse-Stiftung.26 Sie war Vertretungsprofessorin in Bayreuth27 und bereitet für 2018 anlässlich der Wiedereröffnung des zum Weltkulturerbe erklärten Markgräflichen Opernhauses Bayreuth mit einer Hasse-Oper ein internationales Symposion vor.28

Steffen Voss, der insgesamt drei Beschreibungen beisteuerte, blieb ebenfalls ‚im Geschäft‘: 1999 bis 2003 wirkte er unter Marx im DFG-Projekt „Georg Friedrich Händel – Kompositionen zweifelhafter Echtheit“29 als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit – abermals ein philologisches Projekt. Außerdem arbeitete er in einem Erschließungsprojekt der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden zur Dresdener Hofkapelle zu Hasses Zeit, lehrte am Koninklijk Conservatorium Den Haag zu Musikgeschichte und Quellenkunde Alter Musik und promovierte 2014 an der Universität Utrecht.30 Heute ist er bei RISM in München tätig.31

Neben diesen hervorstechenden Namen war die Seminarreihe sicherlich auch für Studierende bereichernd, die ihren Beruf nicht in der philologischen Forschung gefunden haben. Neben dem Fach der Musikwissenschaft, das einen Katalog von jahrzehntelang verschollenen Handschriften gewonnen hat, waren die Gewinntragenden dieses Forschungsprojektes ohne Frage die Studierenden – eine Verbindung von Forschung und Lehre, wie sie im Buche steht!

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