Ein Projektseminar mit Bachelor- und Masterstudierenden im Wintersemester 2016/2017
Kategorie: Öffentlichkeit der Musikwissenschaft
Wissenschaft ist immer öffentlich, hat aber viele unterschiedliche AdressatInnen: intra-, trans- und interdisziplinäre KollegInnen, wissbegierige StudentInnen, Kulturbetrieb, Radio, Politik, enthusiastische MusikliebhaberInnen, die interessierte Öffentlichkeit. Alle diese verschiedenen Adressatenkreise haben ihre eigenen Fragen und Erwartungen an die Musikwissenschaft, unterschiedliche Vorkenntnisse, spezifische Kommunikationswege und –ansprüche sowie Bewertungskriterien. Und alle diese AdressatInnen wurden und werden von der Hamburger Musikwissenschaft angesprochen: Mit zahlreichen Publikationen und Schriftenreihen, Interviews, Lehrprojekten, Kooperationen, Vortragsreihen, Ausstellungen, Kongressen, Exkursionen, Sonderforschungsprojekten – die folgenden Beiträge zeigen zwei vielseitige Beispiele aus Vergangenheit bis Gegenwart.
Wilhelm Heinitz war von 1915 bis 1948 am Kolonialinstitut (s. Beitrag zu „Anfänge der Hamburger Musikwissenschaft“) und der Universität in Hamburg angestellt (s. Lebenslauf). Während seiner akademischen Laufbahn vom wissenschaftlichen Hilfsarbeiter zum Professor unternahm er vielfältige Versuche, Hamburg als einen ‚Standort‘ für Vergleichende Musikwissenschaft zu etablieren. In diesem Rahmen entwickelte er seine sogenannte ‚Biomusikologie‘, die er in der disziplinären Öffentlichkeit auf hartnäckige und mitunter prätentiöse Art und Weise vertrat.1 Anhand ausgewählter Publikationen sowie Kongressbeiträge soll im Folgenden skizziert werden, wie Heinitz seine Forschungen in der Musikwissenschaft zu etablieren suchte.
Heinitz’ Biomusikologie als Teil der Vergleichenden Musikwissenschaft
Bereits 1915 war Heinitz – zunächst noch ohne akademischem Abschluss – mit den Forschungen der damals bekanntesten Vertreter der deutschen Vergleichenden Musikwissenschaft in Kontakt gekommen: jenen von Prof. Dr. Carl Stumpf und Dr. Erich M. von Hornbostel. Spätestens seit 1918 bestand auch persönlicher Kontakt.2 So griff er in den ersten Jahren seiner Anstellung auch auf deren Methoden zurück, z. B. auf Tonhöhenmessungen nach dem Tonometer oder auf den Transkriptionsstandard nach Hornbostel und Dr. Otto Abraham.3 Nach seiner Dissertation im Fach Psychologie bei Prof. Dr. Götz Martius in Kiel 19204 entwickelte er allmählich eigene Methoden und Thesen, die er unter dem Begriff ‚Biomusikologie‘ zusammenfasste und für die er eine spezifische, der Phonetik entlehnte Terminologie anwandte.5 Diese ist gekennzeichnet durch die Prämisse, dass Musik zuallererst Bewegung sei und dass es biologisch notwendige Eigenarten gäbe, wie sich ein Mensch musikalisch artikuliert (s. Abb. 2). Angelehnt an die sogenannte ‚Rutzsche Typenlehre‘6 suchte er selbst nach biologisch typischen musikalischen Ausdrucksmerkmalen von Individuen, Völkern oder „Rassen“.7 Sein empirisch-induktives Vorgehen mit dem Ziel, universelle Gesetze aufzustellen, war charakteristisch für die gesamte Vergleichende Musikwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde jedoch zuweilen auch eben dort problematisiert.8 Die stetige Betonung der allgemeinen Zuverlässigkeit und Aussagekraft der Ergebnisse „exakter naturwissenschaftlicher“ Methoden und „planmäßiger Experimente“ diente Heinitz auch als Legitimierungsstrategie für seine noch nicht etablierten Methoden.9
Disziplinäre Resonanz: Heinitz’ Publikationen im Licht seiner Rezensenten
Schon im Jahr seiner Anstellung als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Phonetischen Laboratorium begann Heinitz in wissenschaftlichen Zeitschriften zu publizieren.10 Bis zu ihrer Einstellung 1936 veröffentliche er regelmäßig Artikel in der vom Phonetischen Laboratorium herausgegebenen Zeitschrift Vox, die sich als Zeitschrift für experimentelle Phonetik verstand. Nach seiner Dissertation veröffentlichte er außerdem zunehmend in musikwissenschaftlichen Fachzeitschriften.11
Seine Publikationen wurden äußerst ambivalent beurteilt. Exemplarisch lässt sich dies an der Resonanz, die seine Habilitationsschrift hervorrief, veranschaulichen. Während Prof. Dr. Robert Lach Heinitz’ Habilitationsschrift Strukturprobleme in primitiver Musik als „ein Musterbeispiel echter deutscher wissenschaftlicher Akribie und Solidität“ und „ein förmliches Kompendium der vergleichend-musikwissenschaftlichen Arbeitstechnik und -methode“ beurteilte,12 kritisierte Dr. Georg Herzog, zunächst Assistent von Stumpf und Hornbostel und später Schüler Prof. Dr. Franz Boas’, einen Mangel an geschichtlicher Perspektive und kulturellem Setting. Er beurteilte ferner die Methodik als dem komplexen Gegenstand nicht angemessenen und unausgereift.13 Hornbostel selbst hatte seinerzeit die Methoden in Heinitz’ erstem Habilitationsentwurf (1924) ebenfalls als zu statistisch und zu unergiebig kritisiert.14
In einem recht kurz gehaltenen Nachruf beschrieb Prof. Dr. Walther Vetter, der von 1929 bis 1934 ebenfalls in Hamburg Lehrbeauftragter war, Heinitz als „sich rastlos mühenden Forscher“, als „problematischen Charakter“. Andererseits hielt er ihm zugute, sich bewusst nicht abgekapselt zu haben.15
Heinitz’ Biomusikologie im „Dritten Reich“
1934 wurde am Phonetischen Laboratorium die Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft gegründet, deren erster und einziger Leiter Heinitz blieb.16 In Berlin waren Vergleichende Musikwissenschaftler wie Hornbostel, Dr. Curt Sachs und Dr. Robert Lachmann schon als Juden oder sogenannte „Halbjuden“ von den Nationalsozialisten entlassen und emigriert. Heinitz’ Position im nationalsozialistischen Deutschland war von Ambivalenzen geprägt. Zum einen lässt sich feststellen, dass er ab 1938 vermehrt zum Thema Musik und Rasse publizierte.17 Aufgrund seiner biologischen Perspektive, seiner an Rutz und Sievers orientierten Typenlehre und seines Universalitätsanspruchs hatte seine Forschung durchaus eine Schnittmenge mit der NS-Rassenideologie. Schon 1928 betonte Heinitz die große Bedeutung der Völkerpsychologie, die jedoch biologisch fundiert werden müsse, um „in die biologische Notwendigkeit eines bestimmten musikalischen Falles eindringen zu können“.18Zum anderen wurde er vom Regime als ideologisch nicht einwandfrei beurteilt. Beispielsweise wurde ihm seine kurze, aber erst nach Januar 1933 beendete Mitgliedschaft in der Johannisloge bis 1945 immer wieder angelastet.19 Zudem promovierte er 1938 den polnischen Juden Rafael Broches,20 der noch im selben Jahr deportiert und vermutlich 1941 im KZ ermordet wurde.21
Universalitätsanspruch und Konflikte: Heinitz’ Kongressteilnahmen
Obgleich Heinitz selbst nie einen Kongress in Hamburg ausgerichtet hat, nahm er an einer Vielzahl von Kongressen teil. Die diversen Kongressteilnahmen zeugen von seinen regen Unternehmungen, seine Forschungen in der Disziplin und darüber hinaus bekannt zu machen. Er besuchte sowohl Kongresse mit musikgeschichtlichen Themenschwerpunkten, als auch allgemein musikwissenschaftliche, phonetische und anthropologische.22 Zwei Beispiele veranschaulichen sein engagiertes wie streitbares Auftreten.
Im März 1932 nahm Heinitz am Kairoer Kongress für arabische Musik teil. Unter der Schirmherrschaft von König Fuad I. wurde auf dem internationalen Kongress zwei Wochen lang in verschiedenen Sektionen über Geschichte und Gegenwart der arabischen Musik diskutiert. Neben einer Vielzahl von arabischen Gelehrten, Komponisten und Poeten waren auch mehrere europäische Musikwissenschaftler zu dem Kongress eingeladen, „in order to discuss all that was required to make the music civilized, and to teach it and rebuild it on acknowledged scientific principles“, wie es im Kongressbericht heißt.23 Neben Sachs, der auch an der Organisation beteiligt war, nahmen auch Hornbostel, Lachmann, Prof. Dr. Johannes Wolf und Paul Hindemith teil. Partizipiert hat Heinitz zum einen an der „Sektion für Musikinstrumente“, zum anderen an der „Sektion für Aufnahmeangelegenheiten“, welche einzelne Stücke der angereisten Ensembles auswählte, um von ihnen Tonaufnahmen anzufertigen. Ein Ergebnis dieser Arbeit ist die nahezu vollständige Sammlung der Tonaufnahmen des Kongresses, die nachträglich an die Forschungsabteilung gesandt wurden und auch heute noch im Institut zugänglich sind (s. Beitrag zur „Sammlung ethnographischer Tonträger“). In der Diskussion trat Heinitz zusätzlich für eine filmische Dokumentation der Aufführungen ein, die jedoch nicht realisiert wurde.24 Diese hätten auch seiner angestrebten biomusikologischen Untersuchung genutzt, zu der er jedoch im Nachhinein nichts veröffentlichte – letztendlich erschienen aus der Feder Heinitz’ lediglich kurze Kongressberichte.25
Nicht zuletzt zeigte sich Heinitz’ konfliktreiche Position innerhalb der Disziplin auf dem ersten internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung 1950 in Lüneburg. Mit Prof. Dr. Friedrich Blume und Prof. Dr. Hans Engel waren zwei seiner schärfsten Kritiker an der Organisation beteiligt.26 Heinitz referierte über die „biologischen Grundlagen der musikalischen Werkkunde“.27 Engel, der Heinitz’ Homogenitätslehre laut einem anonymen Bericht im Spiegel schon zwei Jahre zuvor verrissen hatte, sprach in einer hitzigen Diskussion von „bedauerlicher Unwissenschaftlichkeit“ der aufgestellten Thesen und einem Affront gegenüber ausländischer Kollegen.28 Der Abdruck seines Referats im Kongressbericht wurde von der Redaktion wegen antisemitischer Tendenzen abgelehnt, wogegen Heinitz erwog, gerichtlich vorzugehen.29 In einem offenen Brief an die „musikwissenschaftliche Kollegenschaft“ rechtfertigte Heinitz seine referierten Methoden, aus denen sich „unter Umständen (wie hier) ein Bild der Reinheit rassischer Typologie ergibt, wie es bei dem unendlichen Durcheinander und der vielfachen Verwässerung anderer, z. T. ideologisch erdichteten und tendenziös fehlbewerteten Rasseeigenschaften (auch in dem weiten Gebiet der Vergleichenden Mw.) wohl nur selten gefunden werden dürfte.“30
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Trotz der regen und intensiven Bemühungen gelang es Heinitz kaum, seine ‚Biomusikologie‘ in der Musikwissenschaft zu etablieren. Der Forschungsbereich Musik und Bewegung hat heute in der Musikwissenschaft durchaus eine große Relevanz erlangt, ebenso wie Performance-fokussierte Analysen von Musik.31 Diese Forschung findet jedoch größtenteils unter gänzlich anderen Prämissen als denen von Heinitz statt. Sein Einfluss auf das musikwissenschaftliche Institut ist eher struktureller Art: Durch seine Forschung und Lehre etablierte Heinitz den Forschungsbereich der Vergleichenden Musikwissenschaft, der durch Prof. Dr. Heinrich Husmann, der 1949 die Leitung des musikwissenschaftlichen Instituts übernahm, mit anderen Schwerpunkten methodisch wie thematisch erweitert fortgeführt wurde.32
Popularmusik in der Lehre am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg
Der Schlager sei eine „sozialpsychologische Versuchsanordnung zur Auslösung von triebhaften Verhaltensweisen, deren Folge Bewußtseinsverstümmelung sei“1 – Popmusik „wie ein unaufhörlicher Urlaub, den man doch nur mit Arbeit zubringt“2. Mit diesen drastischen Ansichten stand Theodor W. Adorno lange keinesfalls alleine da. Die hierzulande betriebene Musikwissenschaft hatte zunächst nur wenig Platz für Popularmusik – in erster Linie konzentrierte sie sich auf die „Große Musik“, also die europäische Kunstmusik der letzten 300 Jahre.3 Aber galt dieses Verhältnis auch für das Musikwissenschaftliche Institut der Universität Hamburg? Wie kommt es, dass seit dem Wintersemester 2016/2017 für Bachelorstudierende der Systematischen Musikwissenschaften gar die Beschäftigung mit „Jazz- und Popularmusiktheorie“ zur Pflicht geworden ist?4
Diesen Fragen möchte ich im Folgenden anhand der Lehrveranstaltungen des Musikwissenschaftlichen Institutes zwischen dem Sommersemester 1949 und dem Wintersemester 2016/2017 nachgehen.5 Die getroffenen Aussagen stehen dabei allerdings zum Teil unter dem Vorbehalt, dass Lehrveranstaltungen auch nach Druckschluss der Vorlesungsverzeichnisse noch kurzfristig ausfallen oder hinzukommen können.6 Da diese aber zumindest das Resultat einer Planungsphase waren, sollte trotz dieser Unschärfe hier ein Bild über den Stellenwert und die Entwicklung der popularmusikalischen Lehre am Institut gezeichnet werden können.
Die Charts sind nicht genug
Bevor die Beschäftigung mit Popularmusik an den Musikwissenschaftlichen Instituten der Universität Hamburg weiter untersucht wird, sollte geklärt werden, was an den Hamburger Instituten und somit auch in diesem Beitrag unter diesem Begriff verstanden wird. Sind es nur die Lieder, die wir tagtäglich in den Charts hören? Für den 2002 herausgegebenen 19. Band des Hamburger Jahrbuchs für Musikwissenschaften haben die Herausgeber Prof. Dr. Helmut Rösing, Prof. Dr. Albrecht Schneider und Dr. Martin Pfleiderer eine deutlich breitere Definition gewählt: „[Der Begriff] umfaßt so unterschiedliche Musikbereiche wie volkstümliche Musik, Popklassik und Schlager, Jazz, Rock, Folk, Operette und Musical, aber auch die sogenannte ‚unpopuläre‘ populäre Musik, die z. B. in der Independent-Szene und in der neuen Club-Kultur gedeiht.“7 Auch wenn die Herausgeber im selben Atemzug erwähnen, dass die Bezeichnung noch lange nicht ausdiskutiert ist, sondern mehr als „grobe Verständigungsmarke“8 funktioniert, scheint sie für die Betrachtung der entsprechenden Lehre am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg die sinnvollste zu sein – schließlich wurde sie von prägenden Köpfen der Hamburger Popularmusikforschung aufgestellt.
Startschuss für den Pop?
Es ist schwer, einen genauen Startpunkt der Beschäftigung mit Popularmusik innerhalb der Lehre am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg auszumachen. Vielmehr hat sich die Popularmusik über die besondere Ausrichtung des Hamburger Institutes mit einem Schwerpunkt auf die Systematische Musikwissenschaft sozusagen automatisch in den Hochschulalltag hineingeschlichen. Rösing, Schneider und Pfleiderer schreiben dazu: „[Es] erstaunt […] nicht, daß im Rahmen musikpsycholgisch-experimenteller, musiksoziolgisch-empirischer und musikethnologischer Arbeit an diesem Institut auch die verschiedensten Formen der populären Musik wie selbstverständlich in die jeweiligen Forschungsprogramme mit einbezogen worden sind.“9 Dort, wo unter anderem die Wirkung von Musik auf Mensch und Gesellschaft untersucht wird, spielt gerade die präsente Musik des Alltags immer größerer Bevölkerungsgruppen eine Rolle.
Im Sommersemester 1973 landete mit „Wort-Ton-Problem in alter und neuer Musik einschließlich Folklore und Pop-Musik“ das erste Mal eine Veranstaltung mit explizit ausgeschriebenen Popularmusikanteilen im Lehrplan.10 Im Wintersemester 1973/1974 folgte dann direkt das erste Seminar mit einem Schwerpunkt auf Popularmusik: „Interdisziplinäre Aspekte von Analysen der Popularmusik“.11 Für beide Seminare war Prof. Dr. Hermann Rauhe zuständig. Eigentlich seit 1970 im Bereich der Erziehungswissenschaften für Musikpädagogik zuständig, gab er hier zwei Seminare am Musikwissenschaftlichen Institut.12 Einige Jahre später sollte er als Präsident der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg mit der Gründung des Modellversuchs Popularmusik (heute Eventim Popkurs) für die Popularmusik in Hamburg prägend werden.13
Die beiden Seminare Rauhes am Musikwissenschaftlichen Institut boten allerdings nur ein kurzes, intensiveres Schlaglicht auf die Popularmusik. Nachdem 1975 die Hamburger Musikwissenschaft in die zwei Studiengänge aufgeteilt wurde, „Historische Musikwissenschaft“ und „Systematische Musikwissenschaft“ (s. Beitrag zur „Teilung der Studiengänge“), rückte die Beschäftigung mit Popularmusik zurück in den größeren Kontext soziologischer und psychologischer Seminare und damit schwerpunkthaft in das Angebot der Systematischen Musikwissenschaften. Gerade die Veranstaltungen Prof. Dr. Vladimir Karbusickys, von 1976 bis 1990 Professor für Systematische Musikwissenschaften am Institut, bezogen popularmusikwissenschaftliche Themen ein, wie etwa „Soziologie und Ästhetik der musikalischen Massenkultur“14 (WiSe 1979/80) oder „Trivialmusik, Umgangsmusik, Massenkultur“15 (SoSe 1981). Im Wintersemester 1984/1985 folgte mit „Zur Soziologie und Geschichte der Rockmusik“ dann unter der Leitung von Schneider wieder ein Seminar, mit ausschließlich popularmusikalischen Inhalten.16
Die Ära Schneider, Rösing und Pfleiderer
Schneider trat 1983 eine Professur für Systematische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg an und bot mit den Thema „Zur Soziologie und Geschichte der Rockmusik“ das erste Seminar, das sich genauer mit der historischen Dimension eines bestimmten Zweiges der Popularmusik auseinandersetzen sollte, aber durch die Soziologie auch klar im Feld der Systematischen Musikwissenschaft verortet war. Es folgten verschiedene Veranstaltungen ähnlicher Richtung wie „Zur Soziologie und Sozialgeschichte populärer Musik, Teil I“17 (SoSe 1989), und „Soziologie und Geschichte der populären Musik in England 1960/1970“18 (SoSe 2006). Regelmäßig fanden des weiteren Seminare zu dem eher wirtschaftlich orientierten Thema „Musik und Recht“19 (u. a. SoSe 1985, SoSe 1989, WiSe 1995/96 und SoSe 2005) statt. Als Manager in der Musikwirtschaft beschäftigte Schneider sich bereits vor seiner Professur mit Urheber-, Medien- und dem Sozialversicherungsrecht für Künstler – es folgten daraus nicht nur besagte Lehrveranstaltungen, sondern auch zahlreiche Veröffentlichungen.20 Mit insgesamt 17 Lehrveranstaltungen zu direkt oder indirekt popularmusikwissenschaftlichen Themen war Schneider bis zum Sommersemester 2011 die zentrale Stütze dieses Zweiges am Musikwissenschaftlichen Institut.
Neben Schneider sorgten im Umfeld der Jahrtausendwende zusätzlich Rösing und Pfleiderer für eine regelrechte Pop-Hoch-Zeit. Rösing kam 1993 an das Institut und war bereits zuvor seit 1986 Herausgeber der Beiträge zur Popularmusikforschung des Arbeitskreises Studium Populärer Musik (ASPM). Als Herausgeber eben dieser Schriftenreihe trat seit 1996 dann auf Wunsch Rösings auch das Musikwissenschaftliche Institut auf.21 Zu seinen Seminaren zählten sowohl direkte Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Popularmusik (z. B. „Rockmusik in den 80ern“22 (SoSe 1995)) als auch Veranstaltungen zur Wirkung und Rezeption der Popularmusik (z. B. „Musikalische Lebenswelten Jugendlicher“23 (SoSe 1999)). Die Wichtigkeit der Popularmusik im Alltag – gerade dem Alltag Jugendlicher – stellte Rösing unter anderem in dem gemeinsam mit Prof. Dr. Herbert Bruhn24 erarbeiteten Werk „Musikwissenschaft. Ein Grundkurs“25 heraus.
Weitere Impulse der Popularmusikforschung brachten in den 1990er-Jahren Prof. Dr. Peter Niklas Wilson und Prof. Dr. Reinhard Flender an das Institut. Wilson war selbst Jazzmusiker und arbeite so sowohl praktisch als auch wissenschaftlich-theoretisch an Themen wie dem Crossover zwischen Jazz und Pop.26 Nach seiner Promotion 1984 und Habilitation 1994 lehrte er an der Universität Hamburg als Privatdozent (u. a. im SoSe 1999 „Weltmusik: Aspekte eines problematischen Begriffs“27). Flender promovierte zunächst 1988 in Hamburg zum Thema biblischen Sprechgesang.28 Zusätzlich beschäftigte er sich bereits zu der Zeit mit Popularmusik und lehrte nach seiner Habilitation 1994 ebenfalls als Privatdozent an den Musikwissenschaftlichen Instituten (u. a. im WiSe 2013/14 „Neue Musik & Jazz in Hamburg“29).
Pfleiderer trat nach seiner Promotion an der Universität Gießen zur „Rezeption asiatischer und afrikanischer Musik im Jazz der 60er und 70er Jahre“ 1999 eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent für Systematische Musikwissenschaft in Hamburg an. Bis zu seiner Habilitation im Jahr 200530 hielt er insgesamt neun Seminare zum breiten Spektrum der popularmusikalischen Genres – ob Jazz (WiSe 2004/05),31 World Music (SoSe 1999),32 Soul, Funk und HipHop (SoSe 2002)33 oder Popularmusik im Allgemeinen (WiSe 2002/03).34 Gerade diese Zeit, in der sich sowohl Schneider, Rösing als auch Pfleiderer am Institut befanden, ist mit im Schnitt drei Veranstaltungen mit popularmusikalischem Bezug pro Semester eindeutig ein Höhepunkt dieses Zweiges – zumindest auf Seiten der Systematischen Musikwissenschaften.
Als der Pop Geschichte wurde
Für die Historischen Musikwissenschaften markiert die Ringvorlesungsreihe „Amerikanische Musik im 20. Jahrhundert“ den Startpunkt der Popularmusik im Lehrangebot. Im November 1993 wurde sie unter der Leitung von Dr. Annette Kreutziger-Herr, zu diesem Zeitpunkt wissenschaftliche Assistentin für Historische Musikwissenschaften am Institut,35 vom Institutsrat genehmigt.36 Finanziert wurde die Vortragsreihe und das daraus entstandene Buch von der Arbeitsstelle für wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Hamburg, der United States Information Agency in Deutschland sowie durch das Amerika Haus Hamburg.37 Im Wintersemester 1994/1995 startete die erste Ringvorlesung unter dem Titel „Aspekte amerikanischer Musik im 20. Jahrhundert“38 in der neben Vorträgen zu „Paul Dessau in den USA“ (Prof. Dr. Peter Petersen) und „Charles Ives – Wegbereiter der amerikanischen Moderne“ (Dr. Wolfgang Rathert)39 auch „Schwarze Traditionen in Rock und Pop“ (Rösing) und „Die Reise zu einer Musik ohne Noten“ (Prof. Dr. Manfred Stahnke)40 zum Thema wurden.41 Die Ringvorlesung wurde überwiegend von Professoren, wissenschaftlichen MitarbeiternInnen und freien DozentenInnen des Musikwissenschaftlichen Institut selbst gestaltet – die Vortragenden Rathert (Universität der Künste Berlin), Heinz Geuen (Universität Kassel)42 oder Dr. Werner Grünzweig (Akademie der Künste Berlin)43 ergänzten das Portfolio. Im Wintersemester 1995/1996 folgte mit „Die Rezeption amerikanischer Musik in der BRD“ die zweite Ringvorlesung dieser Reihe – dieses Mal und der Leitung von Dr. Uwe Seifert44 und Rösing.45
Nachdem im Folgenden nur sehr wenige Seminare mit Popularmusik-Bezug gehalten wurden,46 zog ab 2009 diese Richtung mit im Schnitt einem Seminar pro Semester kontinuierlicher in das Feld der Historischen Musikwissenschaft ein. Hierbei sticht vor allem Prof. Dr. Friedrich Geiger heraus, der mit „Slang of Ages: Steely Dan 1972–2009“47 (SoSe 2009) sowie dem zweimal gehaltenen Seminar „Michael Jackson versus Prince“48 (SoSe 2010 und SoSe 2015 gemeinsam mit Ralph Kogelheide) erstmals am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg einzelne Künstler der Popularmusik in das Zentrum eines Seminars stellte. Weiter hielt er im Wintersemester 2015/2016 gemeinsam mit Prof. Dr. Silke Segler-Meßner ein Seminar zum Thema „Narrative der Erinnerung: NS-Zeit in Film und Musik“49 und band unter anderem auch in die Vorlesung und Übung zum Thema „Musik in Deutschland im 20. Jahrhundert“ im Wintersemester 2016/2017 Sitzungen zu popularmusikalischen Entwicklungen ein.
Systematik und Popularmusiklehre heute
Bei den Systematischen Musikwissenschaften zählt die Popularmusik heute zu einem der fest verankerten Bausteine des Studiums. Auch nach dem Weggang Pfleiderers und der Emeritierung Rösings und Schneiders gab es in jedem Semester Angebote in diesem Themengebiet. Besonders regelmäßig finden dabei die Veranstaltungen Dr. Marc Pendzichs statt, der nach seiner Promotion bei Schneider im Jahr 2003 zum Thema „Von der Coverversion zum Hit-Recycling“50 bis heute kontinuierlich Seminare zu Themen wie Recht, Wirtschaft und Politik hält – immer eng an Popularmusik gebunden.
Neben ihm traten in den letzten Jahren vor allen Dingen der Institutsleiter Prof. Dr. Rolf Bader (u. a. mit mehreren Seminaren zum Thema Jazzrock und Fusion), Prof. Dr. Clemens Wöllner (u. a. in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Kathrin Fahlenbrach des Institutes für Medien & Kommunikation zum Thema „Ästhetik und Wahrnehmung von Musik in Film, Werbung und Computerspielen“51) sowie die Doktoranden Henning Albrecht (mit dem Schwerpunkt auf Filmmusik) und Michael Blaß (zu Punk und Zeckenrap) mit Seminaren mit Popularmusikbezug auf. Spätestens seit dem Wintersemester 2016/2017 ist die Popularmusik schließlich durch das neue Bachelor-Pflichtfach „Jazz- und Popularmusiktheorie“ endgültig im Studienleben der Hamburger Systematischen Musikwissenschaften angekommen.52