Was braucht ein musikwissenschaftliches Institut, um produktiv arbeiten zu können? Vieles, was selbstverständlich scheint – angemessene Räumlichkeiten, eine gut ausgestattete Bibliothek, Forschungs- und Musikinstrumente, Personal –, musste von Forschern des Instituts erstritten, eingeworben oder selbst finanziert werden. Weitere Schätze sind durch großzügige Schenkungen Dritter, Rettungsaktionen und Kriegsrückführungsmaßnahmen angehäuft und beforscht worden. Im Folgenden werden unterschiedliche, leicht quantifizierbare Beispiele von Hamburger Kämpfen um, Errungenschaften von und Früchte aus tragfähigen Arbeitsbedingungen beleuchtet.

1. „Viel zu prunkvoll für Studenten …“ – Zur Geschichte des Institutsgebäudes in der Neuen Rabenstraße
2. Wie kommt die Orgel in die Mensa?
3. Die MuWiBib – Mit lieben Grüßen von den Vorgängern
4. Die Sammlung ethnographischer Tonträger: Historische Entwicklung – archivarische Aufgaben – digitale Perspektiven
5. Musikalische Schätze der Staatsbibliothek – aus intensiver Verbindung von Forschung und Lehre geht der Online-Katalog der Hamburger Handschriften Johann Adolf Hasses hervor

„Viel zu prunkvoll für Studenten …“ – Zur Geschichte des Institutsgebäudes in der Neuen Rabenstraße

Von Bernhard Ruhl

Abbildung 1: Berthold Maaß, Kommentar zum Objekt Neue Rabenstraße 13, 25. April 1927, Staatsarchiv Hamburg, 361-5_II_G_e_3 Bd. 1

„viel zu prunkvoll“… – so kommentierte Regierungsrat Berthold F. Th. Maaß das Schreiben der Hambur­ger Studentenhilfe e. V. vom 9. April 1927 an die Hochschulbehörde, worin die beson­dere Eignung des Hauses in der Neuen Rabenstraße 13 als Studentenhaus dargelegt wurde (s. Abb. 1).1 Am Ende langer Bemühungen konnte die Hamburger Studen­tenhilfe letztlich doch dieses „zu prunkvolle Haus“ erwerben, in dem heute die beiden musikwissenschaftlichen Institute sowie die Universitätsmusik beheimatet sind.

Zu beiden Seiten bedrängt von modernen Funktionsbauten, wirkt die ehemalige Villa wie ein Relikt vergangener Zeiten – die hier beheimatete Historische Musikwissen­schaft scheint diesen vergangenheitsbezogenen Aspekt noch zu unterstreichen, beschäftigt sie sich doch mit Themen, die bis zu den Anfängen der Musiktheorie und Notation in der griechischen Antike bis zur Musik der Gegenwart reichen. Die Syste­matische Musikwissenschaft weist ein Spektrum von ersten Erklärungsversuchen des Phythagoras zur Harmonie der Töne sowie ihrer Intervalle bis hin zur Musik im Kon­text moderner neurowissenschaftlicher Untersuchungen auf.

Im Folgenden soll der Weg von der großbürgerlichen Villa bis hin zu ihrer heutigen Nutzung sowie der damit verbundenen baulichen Veränderungen in groben Zügen nachgezeichnet werden.

Die Entstehungszeit der Villa

Frankreich wurden nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871) Reparations­leistungen in Höhe von 5 Mrd. Francs in Gold2 aufgebürdet. Diese Einnahmen brach­ten dem Deutschen Reich einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung („Gründer­jahre“), der u. a. einen Bau-Boom auslöste. Der Architekt und Bauunternehmer Hans Rackwitz erstellte als Bauträger seit etwa 1880 in Hamburg Villen, so auch jene in der Neuen Rabenstraße 13.3

Das Haus wurde nach seiner Fertigstellung 1884 zunächst an den Mitinhaber einer chemischen Fabrik, Dr. Carl Beit, verkauft und bereits 1889 an C. Pfeiffer weiter­veräußert. 1912 erwarb der Ostasien-Kaufmann und spätere Senator Johann Hinrich Garrels das Gebäude.4 Garrels war seit Januar 1917 bis zu seinem Tod (4.11.1920) Senator der Freien und Hansestadt Hamburg. Die anfänglich raschen Eigentümer­wechsel indizierten keine finanziellen Probleme, sondern den rasch wachsenden Wohl­stand, der sich im Erwerb größerer Immobilien in exponierteren Wohnlagen aus­drückte.5

Hamburger Studentenhilfe e. V.

Die allgemeine Not6 nach dem I. Weltkrieg traf auch die Studentenschaft hart. Damals entstanden in vielen Universitätsstädten „Studentenwerke“ als private Selbsthilfeein­richtungen. Die Initiative zur Gründung des Vereines Hamburger Studenten­hilfe e. V. (1921/1922) ging von Universitätsangehörigen und Privatleuten aus, die den Studierenden auf unterschiedlichste Weise, insbesondere durch regelmäßige Speisun­gen, helfen wollten.7

Ab 1925 setzte eine intensive Suche nach einem geeigneten Ort ein, an dem die ver­schiedenen Hilfen einschließlich der dringend benötigten Mensa zentral und universi­tätsnah angeboten werden konnten. Die Suche gestaltete sich überaus schwierig, da die Anforderungen, die das künftige „Studentenhaus“ erfüllen sollte, ebenso vielfältig waren wie die finanziellen Probleme, die es zu überwinden galt. Es wurde intensiv eine Vielzahl von Optionen geprüft, die sich jedoch sämtlich als ungeeignet erwiesen.8

Eine Offerte wurde allerdings nicht weiter in Betracht gezogen. Mit Datum vom 21. April 1927 erhielt der Rektor der Universität ein Schreiben, in dem der Bau eines Studentenheimes (einschließlich einer Mensa) angeboten wurde, „in welchem selbst­verständlich die alkoholgegnerischen Anschauungen des Guttempler-Ordens zur Geltung gebracht werden, indem das Hineinbringen von alkoholischen Getränken nicht erlaubt wird und für dessen [des Studentenheimes] Benutzung seitens der Studentenschaft aber nicht die Alkoholenthaltsamkeit gefordert wird“.9 Warum dieses Angebot nicht näher geprüft wurde, war nicht zu ermitteln.

Das Studentenhaus
Abbildung 2: Argumente für die Neue Rabenstraße 13, Staatsarchiv Hamburg, 361-5_II_G_e_3 Bd. 1

Am vielversprechendsten erschien letztendlich die Option, die „Garrels-Villa“ zu erwer­ben. Die Nähe des sehr gut erhaltenen Hauses zum Universitätsgelände, der eher gering eingeschätzte Bedarf an Umbauarbeiten sowie die für die verschiedenen Aufgaben der Studentenhilfe gut geeigneten Räumlichkeiten sprachen für den Kauf dieser Immobilie. Diese Vorzüge werden in dem bereits erwähnten Schreiben der Hamburger Studentenhilfe vom 9. April 1927 an die Hochschulbehörde zusammengefasst (vgl. Abb. 2).

Die Vertragsverhandlungen mit den Erben Garrels zogen sich hin, doch letztendlich konnte die Villa in der Neuen Rabenstraße 13 noch im Jahr 1927 erworben werden. Die Finanzierung setzte sich aus Eigenmitteln der Hamburger Studenten­hilfe, Spenden von Universitätsangehörigen, Hamburger Unternehme(r)n, Darlehen des Deutschen Studentenwerkes (Dresden) und der öffentlichen Hand zusammen.10

Die ersten kleineren Aus- und Umbauarbeiten betreute der Architekt S. Koyen. Dort, wo sich zuvor der Wintergarten befand, entstand 1928 eine Mensa. Die Einrichtung der Räume erfolgte in Eigenleistung und dank vieler (Sach-)Spenden. Am 20. April 1928 wurde das umgestaltete „Studentenhaus“ feierlich eröffnet, worüber die Hamburger Zeitungen ausführlich berichteten.11

Abbildung 3: Bildausschnitt aus: „Einweihung des Hamburger Studentenhauses“, in: Hamburger Nachrichten (Abendausgabe), 16.5.1928
Rege Annahme – neue Platzprobleme

Das Studentenhaus wurde sehr gut angenommen und rege genutzt, was bald zu neuen räumlichen Problemen führte. Bei den Vorüberlegungen zur Errichtung einer mensa academica in der Garrels-Villa war man von täglich etwa 300 bis 400 auszugebenden Essen ausgegangen. Worauf sich diese Annahme stützte, konnte nicht eruiert werden, denn bereits in einem Schreiben der Hamburger Studentenhilfe vom 28. April 1922 wurde ein deutlich höherer Bedarf – zusätzlich zu der bereits im Grindelhof 40 vorhandenen Mensa – genannt: „wir müssen eine Speiseanstalt haben, in der täglich zwischen 700–1000 Studenten essen können.“12

Tatsächlich stieg die Zahl derer, die die Mensa in der Neuen Rabenstraße 13 nutzten, sehr schnell auf 800 und Anfang 1929 sogar auf 1.000 Mahlzeiten täglich!13 Dieser Andrang war in den dortigen Räumen nicht zu bewältigen, so dass erneut dringend neue Lösungen gefunden werden mussten. In einem Vermerk vom 24. Juni 1929 wurde festgestellt, dass für eine angemessen große Mensa ein Neubau notwendig sei und das Gebäude in der Neuen Rabenstraße 13 dann ausschließlich als universitäres Institut genutzt werden könnte.14

Eine kurzfristige Abhilfe brachte 1929 ein weiterer Umbau, bei dem die vorhandene Mensa durch einen erweiterten Anbau – den heutigen großen Hörsaal – ersetzt wurde. Die Verlegung des Eingangsbereiches zur Straßenfront hin brachte zusätzlich nutz­baren Raum. Das Erscheinungsbild der Villa änderte sich hierdurch deutlich, was durchaus als bewusster Protest (oder zumindest als deutliche Abgrenzung) gegen das Bürgertum beabsichtigt war.15 Die Wiedereröffnung erfolgte am 30. Oktober 1929.

Das Studentenhaus im Dritten Reich

Die Hamburger Studentenhilfe sowie die AStA verfolgten anfangs keine politischen Ziele. Sie sahen sich als Vertretung der nicht korporierten Studenten und den Schwer­punkt ihres Engagements in der sozialen Hilfe und Unterstützung von Studierenden.16 Deshalb fanden bis Anfang der 1930er Jahre keine politischen Veranstaltungen im Studentenhaus statt.17

Gemäß der Satzungsänderung vom 7. Juli 1933 wurde die Hamburger Studentenhilfe zum „Studentenwerk Hamburg e. V.“18 Bereits kurz nach der Machtergreifung wurde der Druck auf die Studierenden bzw. deren Verbindungen an den deutschen Universitäten massiv verstärkt, sich in die „Nationalsozialistische Deutschen Studenten­schaft“ einzufügen.19 Korporierte oder freie Studentenvereinigungen waren seit 1938 endgültig verboten.20

Erschreckend schnell und widerspruchsfrei wurde nun selbst ein kleiner Reparatur­auftrag mit dem Hitler-Gruß unterzeichnet.21 1936 erfolgten nochmals kleinere Um­bauten im Dachgeschoß, die das zuständige Reichsministerium mit 30.000 RM unterstützte. Die entstandenen Büroräume wurden von Funktionären der Studentenschaft, des Studentenbundes sowie des Gaustudentenbundes genutzt und standen somit anderen Studierenden nicht zur Verfügung.22

Neubeginne: Einzug von Militärregierung und Musikwissenschaft

Das Gebäude Neue Rabenstraße 13 hatte den II. Weltkrieg mit nur leichteren Schäden überstanden. Im Juni 1945 wurde die „Studentenhilfe Hamburg e. V.“ neu gegründet und ihr das Eigentum an der Immobilie übertragen. Das Haus wurde allerdings umgehend von der britischen Militärregierung – mit ausdrücklicher Billigung des Hamburger Senats – für Freizeitzwecke der Besatzungsmacht requiriert. Wiederum stand den Studierenden zunächst weder eine mensa academica noch ein Studentenhaus als Begegnungsstätte zur Verfügung. 1947 konnte dann eine Mensa sowie ein Studen­tenwohnheim in der Tesdorpstraße 20 bereitgestellt werden.

Nach langen Verhandlungen23 erfolgte zwar die formale Freigabe im Dezember 1951, jedoch musste das Haus nun umgehend an das britische Information Centre „Die Brücke“ vermietet werden.24 Zunächst wollte die britische Besatzungsmacht die Kosten für die von ihr gewünschte Umgestaltung der früheren Mensa für Theater-, Film- und Varieté-Aufführungen, die dem Raum sein jetziges Aussehen gaben, zu den deutschen Reparationsleistungen hinzurechnen. Letztlich übernahmen die Briten diese Kosten selbst.

Die ursprünglich angedachte Mietdauer von zwei Jahren wurde erheblich ausgedehnt und erst „Ende 1961 zogen Universitätsinstitute in das Gebäude ein“.25 Nutznießer waren die Musikwissenschaft sowie die damalige Akademische Musikpflege, bestehend aus den Collegia musica der Universität Hamburg, die nun in der ehemaligen Mensa proben konnten. Der damalige Universitätsdirektor Jürgen Jürgens verlegte die Proben des ihm schon zuvor gegründeten und nicht der Univer­sität angehörigen Monteverdi-Chores ebenfalls in diesen Raum. Seinen externen Chor setzte er hinfort – nicht immer zur Freude der Studierenden – bei universitären Konzerten ergänzend zum Chor der Universität ein.26

Unsichere Zukunft

Bereits Ende 1979 wurden Teile des Musikwissenschaftlichen Institutes wegen Ein­sturzgefahr des Gebäudes gesperrt werden.27 So durfte die Fachbibliothek nicht mehr genutzt werden; die Schallplatten- und Buchbestände wurden zunächst im Keller­geschoß eingelagert. Im Dezember 1981 kam es dann zu einer Vollsperrung des Gebäudes, da weitere Untersuchungen gravierende Schäden an tragenden Teilen des Hauses ergeben hatten.

Die Lehrveranstaltungen wurden für längere Zeit behelfsmäßig an verschiedenen anderen Orten der Universität durchgeführt. Es stellte sich die Frage, ob das Gebäude abgerissen und ein Ersatzbau vorgenommen werden sollte. Die Universität entscheid sich schließlich für eine Grundsanierung,28 die dann im Jahr 1985 endlich abgeschlossen werden konnte. Die Wiedereröffnung des Institutes erfolgte am 3. Mai 1985.

***

Möge diese ehemals „zu prunkvolle“ Villa, die sich trotz aller baulichen Veränderungen immer noch etwas von ihrem Charme bewahren konnte, der Musikwissenschaft sowie der Universitätsmusik noch lange erhalten bleiben.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis Ausstattung und Arbeitsbedingungen

Wie kommt die Orgel in die Mensa?

Von Bernhard Ruhl

Abbildung 1: Die Walcker-Orgel op. 376 im großen Hörsaal, Foto: Bernhard Ruhl

Beim Betreten der ehemaligen Mensa, dem heutigen großen Hörsaal (Raum 5), fällt der Blick unweigerlich auf die Orgel. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass dieses Instrument ursprünglich nicht für diesen Ort geplant war und auch älter als dieser ist. Wie gelangte es in die Neue Rabenstraße 13? Was ist das Besondere an diesem Instrument? Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst ein kurzer Rückblick auf die Anfänge der Ausbildung von Lehrern in Hamburg notwendig, weil hier der Ursprung ‚unserer‘ Orgel liegt. Danach wird auf die Orgel selbst und ihre Besonderheit eingegangen.

Orgelunterricht am Lehrerseminar

Um die Ausbildung der künftigen Lehrer zu vereinheitlichen und qualitativ zu verbessern, wurde am 6. April 1872 das erste Lehrerseminar Hamburgs mit ange­gliederter ‚Übungsschule‘ in der Binderstraße 34 eröffnet. Zu den ersten fünf Lehr­kräften dieses Lehrerseminars gehörten ein Musik- sowie ein Gesangslehrer.1 Der Musikunterricht war ein wichtiges Element in der Ausbildung der künftigen Volks­schullehrer. Während des Deutschen Kaiserreiches bis in den Zweiten Weltkrieg hinein waren Orgeln – zumindest an höheren Schulen – nicht ungewöhnlich. Sie spielten im Rahmen von festlichen Schulveranstaltungen und beim gemeinschaft­lichen Singen eine wichtige Rolle. Laut Stundenverteilungsplan vom 4. März 1873 erhielten einzelne Seminaristen Orgelunterricht.2 Wo und an welchem Instrument dieser erteilt wurde, konnte bislang nicht eruiert werden.

Das Gebäude in der Binderstraße 34 entsprach bald nicht mehr den wachsenden An­forderungen. 1893 fiel die Entscheidung, das bisherige Lehrerseminar durch einen Neubau am Grindelhof 80 (ebenfalls mit angegliederter Übungsschule) zu ersetzen.3 Dessen Einweihung erfolgte am 18. April 1895. Die Seminaristen erhielten hier weiterhin eine breit angelegte musikalische Ausbildung, die musiktheoretische Kenntnisse, (Chor-)Gesang sowie Geigenunterricht beinhaltete. Einige der angehenden Lehrer erhielten außerdem fakultativ Klavier- oder Orgelunterricht. Hierfür wurde eine eigene Orgel in Auftrag gegeben.

Der Vertrag über den Bau einer Orgel in Hamburg für ein „Neues Schullehrerseminar am Grindelhof“4 ist in den Werkbüchern der Orgelbaufirma E. F. Walcker & Cie. Ludwigsburg als Opus 736 verzeichnet (s. Abb. 2). Dieser Werkvertrag wurde am 24. April 1895 geschlossen; das fertige Instrument war bis zum 24. Oktober 1895 abzuliefern. Die Orgel war für den Einbau in einer Nische der Aula konzipiert.5 Die Kosten für das Instrument in Höhe von 3.500 Mark waren im Etat des Mobiliars für das neue Lehrerseminar eingeplant.6

Abbildung 2: Ausschnitt aus den Werkbüchern zu op. 736, Bestand B 123 Orgelbau Walcker, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart, fol. 318

Die Orgel hatte zwei Weltkriege unbeschadet überstanden. „Das Gebäude ging 1962 auf die Universität über, die es 1972 samt Orgel für einen Neubau abreißen wollte.“7 Der damalige Universitätsmusikdirektor Jürgen Jürgens setzte sich für den Erhalt des historisch wertvollen Instrumentes ein und erreichte, dass es 1972 von der Orgelbau­firma Klaus Becker (Kupfermühle bei Hamburg) abgebaut und in der Neuen Raben­straße 13 wieder aufgebaut wurde.8 Seither steht die Orgel frei im Raum; die Seiten und das Dach wurden hilfsweise durch Spanplatten abgedeckt. So kam die Orgel vom Lehrerseminar in die frühere Mensa, den heutigen großen Hörsaal der Musikwissenschaft.

Das Besondere ‚unserer‘ Orgel

Die Orgelbaufirma E. F. Walcker & Cie. Ludwigsburg war im 19. Jahrhundert eine der bedeutendsten Orgelbaufirmen, deren Anfänge in das Jahr 1780 zurückreichen. Im Zeitraum von 1880–1900 baute Walcker rund 500 Orgeln (op. 382 bis op. 883),9 darunter mehrere Instrumente unterschiedlicher Größen in Hamburg, u. a. die große Orgel von St. Petri (1885).10 Um das Besondere ‚unserer‘ Orgel zu verdeutlichen, ist ein kurzer orgelhistoriographischer Exkurs hilfreich.

Von der ‚barocken‘ zur ‚romantischen‘ Orgel und die Orgelbewegung

In der Barockzeit hatte die Kunst des Orgelspiels und -baus einen Höhepunkt erreicht; beides befruchtete sich wechselseitig. Der barocke Orgelklang zeichnet sich durch seine Brillanz und Klarheit aus. Die Palette der Fußlagen reichte von 32‘-Registern (deren längste Pfeifen eine Länge von etwa 10 m haben) bis zu 1‘-Registern, deren Pfeifen nur wenige Zentimeter groß sind. Diese wurden durch Aliquot11– und Soloregister sowie Mixturen12 ergänzt.

Die verschiedenen Spielebenen (Manuale/Pedal) spiegeln sich in der räumlichen An­ordnung der Pfeifengruppen, den Werken, wider, so etwa die seitlich vom Orgelpro­spekt platzierten Pedaltürme oder das in den Raum hineinragende Rückpositiv. Der barocke Werkprospekt war orgelbautechnisch bedingt, da sämtliche Verbindungen von den Registern bzw. Tasten zu den Orgelpfeifen auf rein mechanischem Weg er­folgten; zugleich ermöglichte dies gezielte akustische Effekte.

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wandelte sich die bisherige Stufendynamik zu einer ‚stufenlosen‘ und der Orchesterklang wurde vielfarbiger durch neu- bzw. weiterentwickelte Instrumente. Die Idee, die Orgel solle die dynamischen sowie klanglichen Möglichkeiten eines Orchesters nachahmen und gleichsam zu einem ‚Ein-Mann-Orchester‘ werden, stand im deutlichen Kontrast zur barocken Orgel.13 Grundtönige 8‘-Register traten in den Vordergrund und wurden vermehrt – anders als in der Barockzeit – miteinander kombiniert; kleinfüßige Register und Aliquote zurückgedrängt, das Rückpositiv entfiel.14

Um die geänderten Klangvorstellungen auf der Orgel zu realisieren, bedurfte es neuer technischer Mittel. Schwellwerke ermöglichten die stufenlose Veränderung der Lautstärke.15 Der Wunsch nach immer mehr Registern16 stieß angesichts der damit verbundenen spiel- und bautechnischen (mechanischen) Probleme bald an Grenzen. Orgelbauer wie Aristide Cavaillé-Coll in Frankreich, Eduard Friedrich Walcker, Friedrich Ladegast u. a. in Deutschland entwickelten deshalb wichtige orgelbautechnische Lösungen.

Pneumatische Register- und Spieltrakturen (πνεῦμα – der Hauch) ersetzten mecha­nische Auslösevorgänge durch Luftimpulse; an die Stelle hölzerner Verbindungen (Abstrakten) traten flexible dünne (Blei-)Rohre. Dies reduzierte Baukosten, ließ neue Prospektgestaltungen zu, erleichterte die Spielbarkeit auch bei einer Vielzahl gezogener Register sowie den Einsatz neuer Spielhilfen. Dies führte zu neuen Formen konzertanter Orgelmusik, die ihrerseits den Orgelbau inspirierten.

Anfang des 20. Jahrhunderts setze eine Rückbesinnung auf das barocke Klangideal und die damit verbundene Spiel- und Registrierkunst ein (Orgelbewegung), in deren Folge sehr viele romantische Orgeln umgebaut und ‚barockisiert‘ wurden. Parallel hierzu verlor die ‚romantische‘ Orgelmusik bis in die 1970er Jahre hinein ihre Bedeutung im Konzertleben.17 So blieben – unabhängig von Kriegsschäden – nur wenige romantische Instrumente original erhalten, was diese umso wertvoller macht.

‚Unsere‘ Walcker-Orgel op. 736 verfügt über 14 Register, die sich auf zwei Manuale und das 27tönige Pedal verteilen. Die Registerzüge befinden sich beidseitig am Spiel­tisch in Registerstaffeleien. Die Disposition der Orgel ist für die Epoche der Romantik typisch und grundtönig. Die Orgelpfeifen sind teils aus Holz gefertigt; metallene überwiegend aus 12lötigem Zinn, einer Legierung aus 75 % Zinn und 25 % Blei. Der bereits erwähnte Auszug aus den Werkbüchern enthält u. a. detaillierte Angaben zur Ausstattung der Orgel sowie den Materialien.

Abbildung 6: Ausschnitt aus einer Entwurfszeichnung zu op. 736, Bestand B 123 Orgelbau Walcker, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart

Die Seitenansicht der Entwurfszeichnung zeigt die Anordnung der Register auf den Windladen (s. Abb. 6). Die Windladen der Manuale sind auf einer Ebene angeordnet, die des Pedals ist ein wenig tiefer dahinter positioniert. Ursprünglich erfolgte die Windversorgung durch ein „Gebläse mit Compensationsfaltenreservoir und Schöpfern mit mechanischem Getriebe (vorgesehen für Motorbetrieb)“ (s. Abb. 7).18 Der Motor befand sich in einem separaten Raum hinter der Orgel.

Abbildung 7: Ausschnitt aus den Werkbüchern zu op. 736, Bestand B 123 Orgelbau Walcker, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart, fol. 324

Der Orgelprospekt ist neo-romanisch gestaltet und wurde bauseits gestellt. „Prospekt von C. G. Marl hier“ heißt es im ‚Bautagebuch‘.19 In den „Rundbogenfeldern mit glatten Lisenen“20 stehen die von Walcker gelieferten nicht-klingenden Blindpfeifen. Die Front ist mit Pilastern (dekorative Säulen ohne statische Funktion) und weiteren Elementen verziert. Das gesamte Pfeifenwerk befindet sich hinter einem die gesamte Orgel abdeckenden Jalousieschweller, der per Schwelltritt geöffnet oder geschlossen wird. Koppeln sowie piano und forte-Einstellungen sind als Druckknöpfe unter dem Manual I vorhanden. Die Orgel war in der „Pariser Temperatur“21 (a‘ = 435 Hz) gestimmt. Mit ihren pneumatischen Kegelladen22 und ebensolchen Spiel- sowie Registertrakturen (s. Abb. 8) entsprach das Instrument dem damals neuesten Stand der Orgelbaukunst.

Abbildung 8: Ausschnitt aus den Werkbüchern zu op. 736, Bestand B 123 Orgelbau Walcker, Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg, Stuttgart, fol. 322

Im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau in der Neuen Rabenstraße 13 wurde die Orgel generalgereinigt und Bleirohre durch Plastikschläuche ersetzt. Die Windversor­gung wird seither „durch eine elektrische Gebläsemaschine sichergestellt“23. Die nächste Generalüberholung und Instandsetzung wurde 1992 dem Orgelbaumeister Heinz Hoffmann (Hamburg) übertragen. Die räumlichen Bedingungen sowie nur sporadisch durchgeführte Wartungsarbeiten ließen die Orgel im Laufe der Zeit unspielbar werden. 2015 erhielt die Rudolf von Beckerath Orgelbau GmbH (Hamburg) den Auftrag, eine Generalreinigung und die wichtigsten Überholungsarbeiten durchzuführen; eine weitergehende Restauration erfolgte nicht.24

Der Orgelsachverständige Günter Seggermann schrieb am 29. August 1992, ‚unsere‘ Orgel sei eine von drei Walcker-Orgeln des Zeitraumes 1880–1900, die weitestgehend original erhalten geblieben seien.25 Dies macht sie historisch wertvoll und zu etwas Besonderem, das es zu erhalten, zu pflegen und zu spielen gilt.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis Ausstattung und Arbeitsbedingungen

 

Die MuWiBib – Mit lieben Grüßen von den Vorgängern

Von Katrin Friese

„Die Bibliotheken sind das Gedächtnis der Menschheit, die Brücken aus der Vergangenheit in die Zukunft, die Grundlagen und Instrumente der wissenschaftlichen Forschung…“1, sagte Wilhelm Hoffmann im Vorwort zum ersten Gutachten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Auch in unserem Institut zeugt eine Musikwissenschaftliche Präsenzbibliothek (MuWiBib) von den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen2, die früher hier lehrten, sich in ihren Publikationen verewigt und den heutigen Studierenden einen Schatz an Materialien zu ihren jeweiligen Forschungsgebieten hinterlassen haben. Neben bedeutenden Wissenschaftlern haben sich in der Bibliothek auch Musikerpersönlichkeiten und Privatleute verewigt, deren Sammlungen und Nachlässe hier vor dem Vergessen bewahrt werden. Die Bücher, Zeitschriften und Sammlungen dienen den heutigen Studierenden nicht nur als Lehrmaterial, sondern bieten auch die Möglichkeit, schon während des Studiums an aktiver Forschung teilzuhaben.

Leider wissen die wenigsten Studierenden, wem sie all dies zu verdanken haben. Um diese Lücke zu füllen, gibt der erste Teil dieses Artikels einen Überblick darüber, wie die MuWiBib anfangs aus Notenheften der Universitätsmusik entstanden ist und wer entscheidende Beiträge zu ihrem Aufbau bis zu ihrer heutigen Größe geleistet hat. In einem zweiten Teil dient die Beschreibung der Schallplattensammlung des Hamburger Musikkritikers Werner Burkhardt als Beispiel dafür, wie Forschung und Lehre an unserem Institut ineinander greifen und den Studierenden so ein praxisnahes Lernen ermöglichen.

Abbildungen 1-3: Räume der Musikwissenschaftlichen Präsenzbibliothek, Fotos: Katrin Friese

Wer schreibt, der bleibt: Von den ersten Notenheften bis zur Präsenzbibliothek

Die musikwissenschaftliche Bibliothek wurde erstmals in einem Brief an die Hausverwaltung der Universität Hamburg erwähnt. Mit der Gründung des Universitäts-Musikinstituts als Teil des Seminars für Erziehungswissenschaften sollte 1934 die praktische Musikpflege und die Ausbildung der Lehrer gewährleistet werden.3 Im Rahmen der Einrichtung der Räume für das neue Institut schrieb ein unbekannter Verfasser4 am 29. Oktober 1934, dass für den Hörsaal N zwei verschließbare Bücher- bzw. Notenschränke möglichst mit Glastüren benötigt würden. Diese sollten mit den Schildern ‚Orchesterbibliothek‘ und ‚Chorbibliothek‘ versehen sein. Außerdem bat er um Bücherborde an den Wänden und wies darauf hin, dass sich um die Anschaffung eines Plattenschrankes für Schallplatten anderweitig gekümmert werde.5 Im Anschluss wurde ein Schrank für beide Bibliotheksteile gemeinsam beantragt6 und für 472 RM am 11. Januar 1935 in Auftrag gegeben.7 Dr. Walter Vetter, der am Universitäts-Musikinstitut als Lehrbeauftragter für Musikgeschichte und -theorie angestellt war, begann zusammen mit dem Leiter des Musikinstituts Dr. Hans Hoffmann die Sammlung, welche im Laufe der Zeit zu der heutigen Bibliothek heranwuchs. Im Januar 1940 enthielt die Bibliothek auf diese Weise bereits Literatur zu folgenden Themenbereichen:8

• Lexika

• Musikgeschichte

• Musiklehre (Harmonielehre und Kontrapunkt)

• Ästhetische Schriften, Biographische Schriften

• Veröffentlichungen und Zeitschriften zum Thema Musikpädagogik und Volksliedkunde

• Denkmäler-Ausgaben und Gesamtausgaben

• Klavierauszüge von bekannten und seltenen Opern

• Wichtige Klavier- und Cembalowerke

• Chor- und Instrumentalliteratur

Dr. Hans Joachim Therstappen legte als nachfolgender Lehrbeauftragter und späterer kommissarischer Leiter des Universitäts-Musikinstituts (s. Beitrag zu „Hans Joachim Therstappen“) besonderen Wert darauf, dass musikgeschichtliches Quellenmaterial (z. B. Briefe von Hans von Bülow) hinzukamen. Die Studierenden sollten so unmittelbare Eindrücke der Wirkung von Werken verschiedener Epochen bekommen.9

Zeitgleich mit dem Universitäts-Musikinstitut wurde die Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaften gegründet (s. Beitrag „Wie alles begann“). Die von Prof. Dr. Wilhelm Heinitz geleitete Forschungsabteilung gehörte zum Phonetischen Laboratorium, das langjährig von Prof. Dr. Giulio Panconcelli-Calzia geleitet wurde, sodass beide Einrichtungen sich in denselben Räumlichkeiten im Mittelweg 90 befanden. Da die Zusammenarbeit unter starken interpersonellen Spannungen litt (s. Beitrag zu Heinitz’ „Etablierung eines neuen Forschungszweiges“), fungierte die Oberschulbehörde Hamburg (Abteilung für Hochschulwesen) häufig als Vermittler. Die Uneinigkeiten ließen sich nicht beilegen, sodass Heinitz 1949 letztlich eine Beendigung der Zusammenarbeit bevorzugte. Im Rahmen von Heinitz’ Auszug aus dem Mittelweg 90 führte er in einem Briefwechsel mit der Abteilung für Hochschulwesen unter anderem den Inhalt der gemeinsamen Bibliothek auf, der mit Geld des phonetischen Laboratoriums gekauft worden sei, weil die Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft nicht die finanziellen Möglichkeiten gehabt habe.10 Heinitz zählte in diesem Zusammenhang folgende Bibliotheksbestände auf:11

Die musikwissenschaftliche Lichtbildsammlung

Die Bibliothek samt Noten und Partituren

Sämtliche Schallplatten und e-Aufnahmen, bestehend aus der ehemaligen Heinitz-Sammlung, vom Rundfunk überlassene Platten, Trommelsprachplatten und eine von ihm in Kairo mitaufgenommene Sammlung und der Westermannsammlung.

Da die Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft 1947 vom Phonetischen Laboratorium getrennt und dem Musikinstitut zugeteilt wurde,12 ist anzunehmen, dass die von Heinitz aufgezählten Bibliotheksbestände mit in die heutige Musikwissenschaftliche Bibliothek eingeflossen sind.

Nachdem Dr. Heinrich Husmann 1948 zunächst kommissarisch die Nachfolge von Therstappen antrat, wurde er 1949 zum außerplanmäßigen Professor und Leiter des Musikwissenschaftlichen Instituts ernannt.13 Nach fast zehn Jahren Dienst in dieser Position erhielt er einen Ruf nach Göttingen, der einen maßgeblichen Einfluss auf den Bestand der Musikwissenschaftlichen Bibliothek haben sollte. Im Rahmen der Ruf-Nachverhandlungen brachte er 1958 eine Liste in eines der Verhandlungsgespräche ein, die zur erheblichen Aufstockung des Bestandes der Denkmäler- und Gesamtausgaben der Bibliothek führte (s. Abb. 4–18).

Abbildungen 4-18: Heinrich Husmann, Liste wissenschaftlicher und praktischer Aufgaben, Staatsarchiv Hamburg, 361-6 IV_1873

Zur Deckung des Nachholbedarfs forderte er zudem eine Aufstockung des Sach-Etats von 3.500 DM auf 8.000 DM und eine einmalige Zuwendung von 50.000 DM. Außerdem forderte er die Herausgabe einer wissenschaftlichen Zeitschrift,14 deren Anschaffung im Gegensatz zu den zuvor genannten Forderungen jedoch nicht realisiert wurde.

Seit diesen Tagen ist die Musikwissenschaftliche Bibliothek stetig gewachsen. Im Februar belief sich der Bibliotheksbestand auf 25.221 Bücher, 5.885 CDs, 8.422 Schallplatten (davon ca. 1.900 Schellackplatten), 96 laufende Zeitschriftenabonnements, 14.974 Notenbänden, 107 Tonbänder, 217 DVDs, 103 VHS-Kasetten sowie 367 MCs und einige DAT-Kassetten.15 Die genaue Entwicklung der Bibliothek zwischen den genannten Zeitpunkten ist anhand der Zugangsbücher nachzuvollziehen, die vor Ort eingesehen werden können.

Der individuelle Charme unserer Bibliothek: Nachlässe mit Seltenheitswert

Diverse Nachlässe und Sammlungen ergänzen die Bestände der Bibliothek und machen sie zu einer wahren Schatzkiste. Hierbei handelt es sich um Sammlungen ehemaliger Lehrkräfte und um Nachlässe von privaten Sammlern, die dem Institut zugetan waren. Folgendes wird auf diese Weise vor dem Vergessen bewahrt:

Briefwechsel zwischen Reinhard Vollhardt16 und weiteren Musikerpersönlichkeiten seiner Zeit

Eine Sammlung musikethnologischer Schellackplatten von Prof. Dr. Wilhelm Heinitz (s. Beitrag zur „Sammlung ethnographischer Tonträger“)

Bücher und Liederbücher zu Musik im Dritten Reich sowohl von Prof. Dr. Reinhold Brinkmann17 als auch von Harry Hahn18

Eine genreübergreifende Schallplattensammlung von Werner Burkhardt

Eine weitere Schallplattensammlung zum Thema Jazz und Swing von Günter Schrage19

Druckerzeugnisse, Musikhandschriften, Notenautographe und Briefwechsel mit Musikerpersönlichkeiten von Dr. Herbert Hübner20 (in der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky untergebracht, da die Sammlung einer speziellen Lagerung bedarf)

Originaldokumente von wissenschaftlichen Arbeiten und Briefen von Dr. Julius Bahle21

Die Hamburger Hasse-Handschriften (ebenfalls in der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky untergebracht) (s. Beitrag „Musikalische Schätze der Staatsbibliothek“)

Sammlungen und Nachlässe werden jedoch im Musikwissenschaftlichen Institut nicht nur aufbewahrt, sondern auch genutzt, um Studierende aktiv in Forschungsarbeiten mit einzubinden. Ein Beispiel hierfür ist die Plattensammlung des Hamburger Musikkritikers und –publizisten Werner Burkhardt.

Exkurs: Der Musikredakteur und -publizist Werner Burkhardt

Werner Burkhardt wurde 1928 im Grindelviertel in unmittelbarer Nähe des Musikwissenschaftlichen Instituts geboren.22 Seine Karriere begann 1952 bei der Welt und setzte sich im Hörfunk fort. Beim NDR machte Burkhardt den sehr beliebten „Pop-Kommentar“ und arbeitete von 1970 an fast 40 Jahre lang als „Botschafter nordischer Kultur“ für die Süddeutsche Zeitung.23 Er übersetzte eine Billie Holiday-Biographie24 und schrieb noch 2002 ein Buch mit dem Titel Klänge, Zeiten, Musikanten – Ein halbes Jahrhundert Jazz, Blues und Rock. 1998 wurde Burkhardt anlässlich seines 70. Geburtstags mit der Biermann-Fatjen-Medaille vom Hamburger Senat geehrt.25 In seiner Arbeit gab es für ihn dabei weder eine Unterscheidung noch eine Wertung zwischen U- und E-Musik, sondern stets nur „Gutes“ oder „Schlechtes“. Burkhardt war bei Kollegen dafür bekannt, dass er alle Genres gleich schätzte und dadurch Maßstäbe setzte.26 In seinen Nachrufen wird er als einer der letzten Allroundkritiker beschrieben, der kompetent über Jazz, Theater, Klassik und Oper schreiben konnte.27 Geachtet und gefürchtet für seine Ehrlichkeit und seinen Schreibstil, „gehörte [Burkhardt] unverzichtbar zum Hamburger Kulturleben – und zum niveauvollen Nachdenken darüber erst recht“.28 Er starb am 20. August 2008 in seiner Wohnung im Grindelviertel.29 Teil seines Nachlasses war eine Sammlung von zunächst auf ca 8.000 geschätzegenreübergreifenden Schallplatten.30 Der größte Teil seiner Sammlung ging mit Werner Burkhardts Tod offiziell in das Eigentum des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Hamburg über31 und beläuft sich tatsächlich auf fast 10.000 Titel.32

Werner Burkhardts Plattensammlung zieht in das Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg

Die Plattensammlung von Burkhardt ist heute Eigentum des Musikwissenschaftlichen Instituts. Dieser Umstand ist einem sehr glücklichen Zufall zu verdanken. Die Sammlung sollte schon zu Burkhardts Lebzeiten ein Zuhause bekommen und 1996 zusammen mit der Instrumentensammlung des damaligen Hamburger Generalmusikdirektors Gerd Albrecht im Instrumentenkundemuseum in der Musikhalle Hamburg33 untergebracht werden. Laut dem Geschäftsführer der Musikhalle, Benedikt Stampa, war dies jedoch nicht möglich, da die Sammlung einer musikologischen Aufarbeitung bedürfe, welche die Musikhalle leider nicht leisten könne. Eine sachgemäße Aufarbeitung würde einen sechsstelligen Betrag kosten und daher würde die Sammlung eher in die Universität passen.34 Burkhardt äußerte, dass er zwar Verständnis für die Problematik der Unterbringung von 8.000 Platten habe, er aber fassungslos über die wohl unendliche Geschichte der Zweiklassengesellschaft in der Musik sei.35 Antje Hinz36 und ein nicht zu identifizierender Verfasser lasen in einem Artikel des Hamburger Abendblatts vom 4. Mai 1996 von diesem Umstand und hatten einen Einfall zur Lösung des Problems.

Abbildung 20: Fax Antje Hinz, 4. Mai 1996.

Noch am gleichen Tag schickten sie den Artikel per Fax an das Musikwissenschaftliche Institut. Sie vermerkten, dass die Platten doch sicherlich eine musikgeschichtliche Lücke des Instituts füllen könnten, wenn sich ein Sponsor fände, der die Vergrößerung des Schallarchivs bezahle. Auf dem Fax wurde daraufhin mit Bleistift errechnet, dass der Umbau ca. 19.200 DM kosten würde.37 Am 3. Juli 1996 wurde vom Referendariat für Bau- und Investitionsplanung der Universität Hamburg die Bestätigung eingeholt, dass man den Vorraum von Raum 08 schallplattengerecht umbauen könne.

Nach einem Besichtigungstermin mit Burkhardt überließ dieser schließlich den größten Teil seiner Sammlung dem Musikwissenschaftlichen Institut.38 Nachdem der Vorraum zu Raum 08 umgebaut und mit 39 Regalmetern für Schallplatten ausgestattet war,39 zogen die Schallplatten40 am 7. März 1997 unter tatkräftiger Hilfe von elf Freiwilligen aus der Studentenschaft von der Grindelallee in die Neue Rabenstraße.41 Am 11. April 1997 zog außerdem die Instrumentensammlung von Albrecht in die Hamburger Musikhalle ein. Ergänzend zu der Ausstellung der Instrumentensammlung wurden ausgewählte 100 Stunden von Burkhardts Schallplatten auf CD überspielt, die auf dem sogenannten Burkhardt-Computer abrufbar waren.42 Nach Absprache mit Werner Burkhardt fand zudem eine größere Anzahl an Shakespeare-Platten ihren Weg in das Englische Seminar der Universität.43

Von nun an war es das Ziel des Instituts, die Platten bis 1998 zu inventarisieren44 und bis 2001 voll zu katalogisieren. Dabei kamen zwischen 1999 und 2001 insgesamt 635 studentische Hilfskraftstunden zum Einsatz.45 Zudem wurde im Jahr 2000 ein innovatives Tutorium von Prof. Dr. Helmut Rösing, Professor für Systematische Musikwissenschaft am Institut, und der Bibliotheksleitung Brigitte Adler ins Leben gerufen, das durch die Behörde für Wissenschaft und Forschung gefördert wurde.46 Das Tutorium verfolgte das Ziel, durch die Sichtung und Aufarbeitung der Burkhardt-Sammlung die Eigenarbeit und Selbstorganisation der Studierenden zu fördern. In zwei Semesterwochenstunden sollte über drei Semester hinweg eine Herangehensweise für die Aufarbeitung, die inhaltliche und die formale Erschließung entwickelt und ein gemeinsamer Bericht mit dem Tutor verfasst werden.47 Zudem fanden Lehrveranstaltungen zur thematischen Aufarbeitung der einzelnen Genres statt.48

Mithilfe von zusätzlichen Arbeitskräften konnte das Musikwissenschaftliche Institut bis 2001 also einen großen Teil der Sammlung katalogisieren, der über den Bibliothekskatalog für die Öffentlichkeit recherchierbar ist.49 Der Rest des Nachlasses harrt noch seiner abschließenden Katalogisierung. Werner Burkhardt hat die Schallplattensammlung in seinem Testament vom 31. Dezember 1998 (eröffnet am 24.9.2008) vermacht.50 Seit Prof. Dr. Friedrich Geiger im Namen des Instituts am 28. November 2008 schriftlich die Annahme des Testaments erklärt hat, gehört die Sammlung offiziell zum Besitz des Musikwissenschaftlichen Instituts.51

Bibliotheken: Orte zum Innehalten, Erinnern, Be-greifen

In Zeiten der Digitalisierung verliert das wissenschaftliche Arbeiten und studentische Lernen zunehmend an sinnlichen Eindrücken – sie werden häufig zu virtuellen Angelegenheiten. Durch die Verfügbarkeit und Zeitlosigkeit von digitalen Texten und Musik wird schnell übersehen, wer sie geschrieben hat und wie alt viele schon sind. Aber muss man nicht manches erst be-greifen, um wirklich zu verstehen? Sind es nicht gerade Sinneseindrücke, die helfen, sich an etwas zu erinnern? Orte wie die Musikwissenschaftliche Bibliothek laden Studierende und Lehrende ein, still zu werden und im Hier und Jetzt anzukommen. Der Geruch und das Gefühl von altem Papier oder allein der Anblick von 39 Regalmetern voller Schallplatten erinnern an vergangene Zeiten und die Menschen, ohne die das Musikwissenschaftliche Institut heute andere Arbeitsbedingungen hätte. Allein dafür lohnt es sich Bibliotheken und Sammlungen zu erhalten. Und wer weiß, vielleicht hält der eine oder andere manchmal inne und denkt „Danke, Wilhelm Heinitz!“, „Danke, Heinrich Husmann!“ oder auch „Danke, Werner Burkhardt!“.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis Ausstattung und Arbeitsbedinungen

Die Sammlung ethnographischer Tonträger: Historische Entwicklung – archivarische Aufgaben – digitale Perspektiven

Von Christian Koehn

Schallaufnahmen zählen zum wichtigsten Quellenmaterial der Musikethnologie.1 Allerdings wurde es erst durch die technische Errungenschaft der Schallaufzeichnung möglich, mündlich tradierte Wissensbestände, wie etwa Musik und Gesänge schriftloser Völker, zu bewahren und in Form von Schallarchiven der wissenschaftlichen Untersuchung zugängig zu machen.2 In Hamburg lässt sich das systematische Sammeln von Tonträgern zu wissenschaftlichen Zwecken bis in das Hamburgische Kolonialinstitut (1908–1919) zurückverfolgen. Die dort zusammengetragenen afrikanischen und arabischen Musikaufnahmen bilden heute den Kernbestand der Sammlung historischer ethnographischer Tonträger am musikwissenschaftlichen Institut. Die Entstehungsgeschichte dieser Sammlung soll im Folgenden kurz umrissen werden.

Das Hamburgische Kolonialinstitut (1908–1919)

Das Hamburgische Kolonialinstitut wurde 1908 als erste staatliche Hochschule Hamburgs gegründet (s. Beitrag zu „Die Anfänge der Hamburger Musikwissenschaft“). Die wissenschaftliche Aufgabe des Kolonialinstituts bestand zunächst darin, die aus den deutschen Kolonien erbrachten Informationen und Objekte auszuwerten. Diese institutionelle Forschungstätigkeit diversifizierte sich bald (u. a. Orientalistik, Völkerkunde, Geographie, Zoologie, Botanik, zahlreiche verschiedene Regional- und Sprachwissenschaften). Das Lehrangebot fokussierte sich neben einem öffentlichen „allgemeinen Vorlesungswesen“ weitgehend auf ein zweisemestriges Kurrikulum zur Vorbereitung auf den gehobenen kolonialen Beamtendienst.3

Für Wissenschaft und koloniale Verwaltungsaufgaben gleichermaßen von Interesse war die Beschäftigung mit den jeweiligen einheimischen Sprachen. Im Jahr 1909 wurde daher eine Professur für afrikanische Sprachen geschaffen. Der Theologe und Afrikanist Dr. Carl Meinhof (1857–1944) wurde auf diesen Posten berufen und zum Direktor des Seminars für Kolonialsprachen ernannt.4 Im folgenden Jahr wurde dem Seminar das Phonetische Laboratorium, die weltweit erste institutionelle Einrichtung zur experimentellen Untersuchung der menschlichen Sprachlautformung, unter der Leitung von Dr. Giulio Panconcelli-Calzia (1878–1966) als eigenständige Forschungsabteilung angegliedert. Ab 1913 gab das Phonetische Laboratorium die Zeitschrift „Vox – Internationales Zentralblatt für experimentelle Phonetik“ heraus.5

Mit dem Verlust der deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg verlor das Kolonialinstitut die zentrale Aufgabe der Beamtenausbildung. Zahlreiche der wissenschaftlichen Einrichtungen, so auch das Phonetische Laboratorium, blieben jedoch bestehen. Mit der Gründung der Hamburgischen Universität im Jahr 1919 wurden die Seminare des Kolonialinstituts in die philosophische Fakultät integriert.6

Auf- und Ausbau der Sammlung

Im Jahr 1915 begann der gelernte Fagottist Wilhelm Heinitz (1883–1963) als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Phonetischen Laboratorium des Hamburgischen Kolonialinstituts. Früh erkannte Heinitz den Wert der noch relativ jungen Technik der mechanischen Schallaufzeichnung für die Sprachforschung, aber auch für musikalische Studien:7 Von Beginn an befasste sich der Musiker Heinitz mit Erscheinungen im Grenzbereich von Musik und Sprache. Dabei untersuchte er beispielsweise afrikanische Trommelsprachen eingehend.8 Hierzu beschaffte Heinitz entsprechende Schallaufnahmen und nutzte die seinerzeit hochmoderne naturwissenschaftlich-technische Ausstattung des Laboratoriums zu tonometrischen Messungen – die technischen Apparate befinden sich heute in der Sammlung des Instituts für Akustik und Sprachkommunikation der TU Dresden.

Auch nachdem Heinitz 1920 promoviert worden war, setzte er seine Tätigkeit am Phonetischen Laboratorium fort. Sein Forschungsinteresse wandte sich immer gezielter der außereuropäischen Musik zu. In den folgenden Jahren erweiterte Heinitz die Tonträgersammlung des Phonetischen Laboratoriums um zahlreiche Aufnahmen hauptsächlich afrikanischer und arabischer Musik. Im November 1948 schied er schließlich aus dem Hochschuldienst aus. Die Bestände der einst am Kolonialinstitut begonnenen Tonträgersammlung wurden in der Folge in die Bibliothek des 1949 gegründeten musikwissenschaftlichen Instituts überführt.

Heutiger Umfang der Sammlung

Heute sind in der Sammlung 654 Tonträger – Schellackplatten, Acetat- und Metallfolienschnitte – mit insgesamt etwa 2.600 Einzelaufnahmen erhalten. Die Aufnahmen umfassen Musik und Gesang aus fast allen Teilen der Welt. Einen Schwerpunkt der Sammlung bilden Aufnahmen aus Afrika

und der arabischen Welt
. Hierzu zählt etwa ein vollständiger Satz der 162 Schallplatten, die The Gramophone Company anlässlich des Kairoer Kongresses für arabische Musik im Jahr 1932 veröffentlicht hat (s. Beitrag zu Heinitz’ „Etablierung eines neuen Forschungszweiges“). Ferner finden sich u. a. historische Aufnahmen aus Indien, Japan
, Zentral- und Südostasien, sowie Aufnahmen europäischer Volksmusik
.

Zahlreiche der Tonträger stammen von kommerziellen Schallplattenverlagen wie etwa Odeon und Parlophon-Lindström. Diese hatten früh die Kolonialgebiete als Absatzmärkte für ihre Erzeugnisse entdeckt und dort bereits während der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts ein Händlernetz etabliert. Diese überaus seltenen Aufnahmen sind für die heutige Musikwissenschaft von besonderem Interesse. Im Gegensatz zu den von europäischen Forschern erstellten Feldaufnahmen wurde hier die Auswahl der aufgenommenen Musiker i. d. R. von einheimischen Experten vorgenommen. Diese Schallplatten spiegeln mithin die lokalen Präferenzen in der Musikrezeption der entsprechenden Region und der jeweiligen Entstehungszeit wider.

In den Jahrzehnten nach der Gründung des musikwissenschaftlichen Instituts wurde die Sammlung außereuropäischer Musik durch zahlreiche Feldaufnahmen von Professoren, Mitarbeitern und Studierenden weiter ergänzt. Hierzu zählen so einzigartige Bestände wie beispielsweise 41 Tonbandspulen mit im Jahr 1955 von Dr. Hans Hickmann aufgezeichneten Feldaufnahmen ägyptischer Volksmusik,9 seltene Aufnahmen der Musik des sudanesischen Volks der Hadendoa,10 die ersten nach der Herrschaft der Khmer Rouge erstellten Aufnahmen des melismatischen smot-Gesangs buddhistischer Mönche in Kambodscha,11 Aufnahmen der Ritualmusik des brasilianischen Candomblé12 sowie die einzigen Tonaufnahmen der Gesänge des Ahnenkults der Seenomaden der östlichen Andamanensee.13

Systematisierung der Bestände: Das E.S.R.A.-Projekt

Im Rahmen des Projekts E.S.R.A. (Ethnographic Sound Recordings Archive) werden die historischen ethnographischen Tonträger des musikwissenschaftlichen Instituts seit Januar 2013 digitalisiert.14 Die Erstellung der Digitalisate erfolgt hierbei nach international etablierten Richtlinien, um ein Höchstmaß an Interoperabilität im Rahmen möglicher zukünftiger Standardisierungen zu gewährleisten.15 Auf der Grundlage von am Institut für Systematische Musikwissenschaft im Laufe der vergangenen zehn Jahre durchgeführter Forschungsarbeit wird zudem eine für die Verwaltung von Digitalisaten historischer ethnographischer Tonträger optimierte Datenbank-Infrastruktur entwickelt. Hierbei kommen insbesondere neuartige Verfahren der Datenextraktion unter Verwendung spezialisierter Methoden der digitalen Signalverarbeitung (Music Information Retrival) zur Anwendung, um computergestützte Zugangsmodalitäten zu großen Audiodaten-Beständen in kontextualisierter und semantisch integrierter Form zu ermöglichen. Die vor über einem Jahrhundert begonnene Sammlung ethnographischer Tonträger wird so einem breiten Nutzerkreis in digitaler Form zugänglich gemacht.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis Ausstattung und Arbeitsbedingungen

Musikalische Schätze der Staatsbibliothek – aus intensiver Verbindung von Forschung und Lehre geht der Online-Katalog der Hamburger Handschriften Johann Adolf Hasses hervor

Von Mareike Aldag

In den 1990er Jahren wurde in Kooperation des Musikwissenschaftlichen Instituts mit der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg über sieben Jahre eine Reihe von zwölf Seminaren durchgeführt, in der Studierende den hiesigen Handschriften-Bestand von Werken Johann Adolf Hasses (1699–1783) beschrieben und in einem Online-Katalog der Öffentlichkeit zugänglich machten. Entscheidend für den Entschluss, die ‚Hamburger Hasse-Handschriften‘ in einer Seminarreihe zu erforschen, war das Jahr 1991: Durch glückliche politische Umstände kamen aus St. Petersburg zahlreiche im Zweiten Weltkrieg ausgelagerte Musikalien zurück in den Besitz der Hamburger Staatsbibliothek. Darunter befanden sich auch ein Großteil der Bestände des 1699 in Bergedorf bei Hamburg geborenen Komponisten (s. Abb. 1).

Abbildung 1: Johann Adolf Hasse, L’Artaserse, Abschrift (1740), Bd. 1, D-Hs ND VI 2927, fol. 19 r.

Nach dem nun folgenden Abriss über die Geschichte dieser Handschriften soll das Projekt des „Hasse-Kataloges“ in all seinen Facetten vorgestellt werden.

Auslagerung im Zweiten Weltkrieg

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges veranlasste Gustav Wahl, damaliger Direktor der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, die Auslagerung der wertvollsten Bestände in Luftschutztürme wie das Turmgewölbe von St. Michaeli und drei weitere, vermeintlich sichere Orte. Nach der Flächenbombardierung Lübecks im März 1942 wurde die Auslagerung seltener Bestände dann in viel größerem Stil als zuvor und an entlegenere Orte geplant. Im April 1943, drei Monate vor der Operation Gomorrha, die Hamburg in Schutt und Asche legte, wurde eine Lieferung von 287 Kisten in das als „auswärtiger Magazinraum“ bereitgestellte Schloss Lauenstein in Sachsen gebracht.1 Neben vielen anderen wertvollen Drucken und Inkunabeln2 wurden so auch etwa 1.300 Musikhandschriften gesichert, darunter ein Großteil der Hamburger Handschriften von Hasses Werken. Bis zum Kriegsende blieb dieser ausgelagerte Bestand und damit die Hasse-Handschriften (= Hassiana) unversehrt im Schloss Lauenstein, bis die Rote Armee ihn Anfang Februar 1946 auf Befehl der sowjetischen Trophäen-Kommission beschlagnahmte und nach Berlin brachte. Von hier aus wurde ein Gesamtbestand von 1,2 Millionen Bänden Kulturgut aus der sowjetischen Besatzungszone nach Russland überführt.3

Rückführung aus St. Petersburg

Die Musik-Handschriften dieser 287 Kisten mit wertvollsten Beständen der Staatsbibliothek – insgesamt 1.200 Partituren, 15.983 Orchester- und Vokal-Stimmen und 100 Kapseln mit jeweils 200 Partiturautographen – wurden, nachdem sie im August 1946 in St. Petersburg ankamen, zunächst in einem Reserve-Magazin der heutigen Russischen Nationalbibliothek untergebracht und 1948 an das Staatliches Institut für Theater, Musik und Film N. K. Cerkasov abgegeben. Im Herbst 1983 fand man die in einem Kellerraum verwahrten Musikalien wieder – nur war der Raum überschwemmt und die gesamte Sammlung schimmelpilzbefallen und zum Teil erheblich beschädigt.4 Das führt einmal mehr vor Augen, welch glücklichen Umständen es zu verdanken ist, dass diese Musikhandschriften in den 1990er Jahren von angehenden Hamburger Musikwissenschaftlern bearbeitet werden konnten.

Infolge des sich bereits seinem Ende neigenden Zerfalls der Sowjetunion5 wurde die Staatsbibliothek über das deutsche Generalkonsulat in Leningrad 1990 über die Musikalien im Staatlichen Institut für Theater, Musik und Film N. K. Cerkasov informiert; die Rückgabe von etwa 2.000 Bänden, darunter auch die Hassiana, wurde mit einem offiziellen Akt im Hamburger Rathaus begangen.6

Exkurs – Friedrich Chrysanders und Otto Jahns Hasse-Leidenschaft

Dass die Hasse-Handschriften überhaupt erst ihren Weg nach Hamburg gefunden haben, ist vor allem dem Händel-Forscher Friedrich Chrysander (1829–1901) und dem Mozart-Biographen Otto Jahn (1813–1869) geschuldet. Jahn und Chrysander haben in den 1850er und 1860er Jahren eine Art Wettstreit des Erwerbs von Hasse-Handschriften ausgetragen. Aus dem Nachlass dieser beiden Sammler von historischen Musikhandschriften und -drucken erhielt die heutige Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg dreimal große Bestände an Musikalien, worunter sich auch jedes Mal Hassiana befanden. Die Hasse-Handschriften, die beide antiquarisch erwarben, lassen sich wiederum zu einem großen Teil nach Dresden zurückverfolgen, ein Ort, an dem Hasse langjährig tätig gewesen ist.7

Der verhältnismäßig große Hamburger Bestand an Hassiana ist also mit den Sammelaktivitäten zweier privater Musikforscher und -sammler zu begründen, weniger mit Hasses Geburtsort Bergedorf.

Das Geschäft angehender Philologen

Nachdem die vielen, lange als „spurlos verschollen“8 geltenden Handschriften aus St. Petersburg 1991 nach Hamburg zurückgekehrt waren, rissen sich Forscher förmlich darum, das neue Forschungsmaterial nach über 45 Jahren Abhandensein bearbeiten zu können.

Mit genau diesem Anliegen traf Prof. Dr. Hans Joachim Marx, damaliger Professor für Historische Musikwissenschaft der Universität Hamburg, mit dem 1993 gerade neu an der Staatsbibliothek angestellten Musikbibliothekar Dr. Jürgen Neubacher auf einen engagierten Partner, der vor seiner Bibliothekslaufbahn in Mainz als Musikwissenschaftler promoviert wurde.9 Gemeinsam entwickelten sie das Konzept eines Seminars, in dem die Studierenden eine Auswahl aus den 1991 rückgeführten Musikalien (die Konzentration auf Hasse war noch nicht vorgenommen worden) beschreiben sollten, um diese in einem Katalog der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Einerseits konnte so der wissenschaftliche Nachwuchs mit einbezogen werden, andererseits war damit schlicht ein Mehr an Arbeitskraft und -zeit gewonnen, um die Menge an Handschriften zu erschließen. Es sollte schnell begonnen werden: In der Ratssitzung des Musikwissenschaftlichen Instituts im April 1993 wurde nachträglich noch das Seminar mit dem Titel „Die ‚Petersburger‘ Musik-Handschriften“ für das Vorlesungsverzeichnis des Wintersemesters 1993/94 ergänzt.10

Die Seminare fanden nach den Öffnungszeiten direkt im Handschriftensaal der Staatsbibliothek statt.11 Jeder Studierende bekam direkt zu Beginn des Semesters eine Handschrift, deren intensive philologische Beschreibung die Studienleistung war.

Zur Veranschaulichung sehen Sie hier eine solche Studienleistung, die die Handschrift der Oper Artaserse beschreibt (s. Abb. 2–6);12 aus der beschriebenen Opernhandschrift stammt auch der oben zu sehende Ausschnitt (s. Abb. 1). Festgehalten werden u. a. die Schriftbilder der verschiedenen Schreiber, die an dieser mehrbändigen Handschrift gearbeitet haben.13

Abbildungen 2–6: Saskia Maria Woyke, Beschreibung D-Hs ND VI 2927 (Studienleistung)

Der „Seminar-Alltag“ war erfüllt von gemeinsamer aktiver Arbeit an den Handschriften und damit einhergehend Vorstellungen von Zwischenergebnissen seitens der Studierenden. Zusätzlich wurden sowohl von Neubacher und Marx, als auch von den Studierenden Vorträge über fachliche Hintergründe gehalten, wie beispielsweise über Wasserzeichen oder Hasses Dresdener Kompositionsbedingungen.

In den ersten Veranstaltungen stellte sich aber ein Problem heraus: Die Werke, die von den Studierenden bearbeitet wurden, kamen anfangs noch aus ganz unterschiedlichen Gattungen (wie Oper, Kantate, Messen, oder reine Instrumentalmusik wie Toccaten), von unterschiedlichen Komponisten und aus unterschiedlichen Epochen. Aus solch disparaten Beschreibungen einen stringenten Katalog, online oder gedruckt, zu generieren, schien nicht möglich. Die Entscheidung, den Komponisten Johann Adolf Hasse als Fokus für einen Katalog zu wählen, ging dabei aus den Seminarsitzungen selbst, aus der Diskussion zwischen Studierenden und Dozenten hervor.14 Gleichzeitig mit der Konzeption des Handschriftenseminars in der Ratssitzung von April 1993 wurde außerdem ein Hauptseminar, ebenfalls unter der Leitung von Hans Joachim Marx, in das Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1994 eingetragen, das den Titel „Die Dresdner Hofmusik und Johann Adolf Hasse“ trug.15 Dies wird auf eine erste Sichtung der 1991 rückgeführten Handschriften zurückzuführen sein und mag zur Schwerpunktwahl des „Petersburger Musikhandschriften“ Seminars beigetragen haben.

Von der Seminararbeit zum öffentlichen Hasse-Katalog

Aus den Seminarleistungen der Studierenden ging der heute online zugängliche Hasse-Katalog von allen rund 85 Hassiana der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek hervor. Diese als Seminarleistung angefertigten Beschreibungen wurden von Roland Dieter Schmidt-Hensel und Wiebke Holberg redigiert. Schmidt-Hensel blieb als Studentische Hilfskraft auch nach der Seminarreihe eng mit dem Projekt verbunden.16 Weitere Hassiana, die erst 1998 ihren Weg aus Armenien zurück nach Hamburg gefunden hatten,17 wurden von Neubacher, Schmidt-Hensel und Marx selbst bearbeitet.18 2003 waren die redaktionellen Arbeiten dann größtenteils abgeschlossen.19

Auch diese heute direkt im Katalog unter der Signatur ND VI 2927 zu findende Version der schon oben stehenden Studienleistung von Woyke redigierte Schmidt-Hensel (s. Abb. 7–12)20:

Abbildungen 7–12: Saskia Maria Woyke, Beschreibung D-Hs ND VI 2927 (Online-Katalog)

Online ging der Katalog nach den letzten Überarbeitungen allerdings erst 2006 – zeitgleich erschien der 6. Band der Hasse-Studien, der sich auf den Hamburger Hasse-Katalog bezieht. Unter den Autoren der Beiträge sind mit Schmidt-Hensel und Hansjörg Drauschke auch zwei ehemalige Teilnehmer der Seminarreihe vertreten.21

Aus dem Blickwinkel der Studierenden

Dieses in die Lehre getragene Forschungsprojekt, das offenkundig mit einer Publikation abgeschlossen werden sollte, setzte genau dadurch eine gewisse Ernsthaftigkeit der Studierenden voraus. Dieses greifbare Ergebnis für die wissenschaftliche Öffentlichkeit war vielleicht auch ausschlaggebend und Anreiz dafür, überhaupt an diesem Seminar teilzunehmen. Gerade die Seminarbesucher der ersten zwei bis drei Semester waren, wie oben erwähnt, maßgeblich an der Konzeption des späteren Katalogs beteiligt.

Zudem ist auffällig, dass fast die Hälfte der Studierenden das Seminar zu den „Petersburger Musikhandschriften“ ein weiteres Mal belegte und mehr als eine Handschrift katalogisiert hat, was für eine anhaltende Begeisterung sprechen kann.22 Nicht zuletzt ist der Erfolg eines solchen Forschungsprojektes in Form einer Seminarreihe darin zu messen, ob die beteiligten Studierenden in der Thematik weiterhin tätig sind. In dieser Hinsicht war die Seminarreihe zu den „Petersburger Musikhandschriften“ bemerkenswert erfolgreich. Folgende Studierende blieben der Thematik ‚treu‘:

Roland Dieter Schmidt-Hensel promovierte nach seiner redaktionellen Arbeit am Katalog 2004 bei Marx über Hasses Opere Serie.23 Er arbeitet seit 2008 als stellvertretender Abteilungsleiter in der Musikabteilung der Staatsbibliothek Berlin.24

Hansjörg Drauschke ist heute an der Universität Halle tätig, wo er 2016 mit einer Arbeit über die Opern Johann Matthesons promovierte. Seine Schwerpunkte sind somit die Hamburger Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts und Edition; gerade letzteres liegt als ebenfalls philologische Arbeit nah bei der Katalogisierung.25

Saskia Maria Woyke, von der die hier gezeigte Beschreibung von Hasses Artaserse stammt, hat ihre Magisterarbeit 1997 über die Sängerinnenkarriere Faustina Bordonis (Hasses Ehefrau) geschrieben und diese 2010 zur Monographie Faustina Bordoni. Biographie, Vokalprofil, Rezeption erweitert. Außerdem war Woyke wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Hasse-Archiv und der Hasse-Gesellschaft Bergedorf, und ist damit zusammen mit Roland Dieter Schmidt-Hensel am umfangreichsten in dieses Projekt involviert gewesen. Sie ist seit mehreren Jahren stellvertretende Vorsitzende der Johann Adolf Hasse-Stiftung.26 Sie war Vertretungsprofessorin in Bayreuth27 und bereitet für 2018 anlässlich der Wiedereröffnung des zum Weltkulturerbe erklärten Markgräflichen Opernhauses Bayreuth mit einer Hasse-Oper ein internationales Symposion vor.28

Steffen Voss, der insgesamt drei Beschreibungen beisteuerte, blieb ebenfalls ‚im Geschäft‘: 1999 bis 2003 wirkte er unter Marx im DFG-Projekt „Georg Friedrich Händel – Kompositionen zweifelhafter Echtheit“29 als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit – abermals ein philologisches Projekt. Außerdem arbeitete er in einem Erschließungsprojekt der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden zur Dresdener Hofkapelle zu Hasses Zeit, lehrte am Koninklijk Conservatorium Den Haag zu Musikgeschichte und Quellenkunde Alter Musik und promovierte 2014 an der Universität Utrecht.30 Heute ist er bei RISM in München tätig.31

Neben diesen hervorstechenden Namen war die Seminarreihe sicherlich auch für Studierende bereichernd, die ihren Beruf nicht in der philologischen Forschung gefunden haben. Neben dem Fach der Musikwissenschaft, das einen Katalog von jahrzehntelang verschollenen Handschriften gewonnen hat, waren die Gewinntragenden dieses Forschungsprojektes ohne Frage die Studierenden – eine Verbindung von Forschung und Lehre, wie sie im Buche steht!

Zurück zum Inhaltsverzeichnis Ausstattung und Arbeitsbedingungen