Die Etablierung eines neuen Forschungszweiges: Wilhelm Heinitz’ ‚Biomusikologie‘ in der disziplinären Öffentlichkeit

Von Jana Kummer

Lebenslauf Wilhelm Heinitz
Abbildung 1: Wilhelm Heinitz, aus: Ethnographic Sound Recordings Archive, Institut für Systematische Musikwissenschaft

 

 

 

 

 

 

 

 

Wilhelm Heinitz war von 1915 bis 1948 am Kolonialinstitut (s. Beitrag zu „Anfänge der Hamburger Musikwissenschaft“) und der Universität in Hamburg angestellt (s. Lebenslauf). Während seiner akademischen Laufbahn vom wissenschaftlichen Hilfsarbeiter zum Professor unternahm er vielfältige Versuche, Hamburg als einen ‚Standort‘ für Vergleichende Musikwissenschaft zu etablieren. In diesem Rahmen entwickelte er seine sogenannte ‚Biomusikologie‘, die er in der disziplinären Öffentlichkeit auf hartnäckige und mitunter prätentiöse Art und Weise vertrat.1 Anhand ausgewählter Publikationen sowie Kongressbeiträge soll im Folgenden skizziert werden, wie Heinitz seine Forschungen in der Musikwissenschaft zu etablieren suchte.

Heinitz Biomusikologie als Teil der Vergleichenden Musikwissenschaft

Bereits 1915 war Heinitz – zunächst noch ohne akademischem Abschluss – mit den Forschungen der damals bekanntesten Vertreter der deutschen Vergleichenden Musikwissenschaft in Kontakt gekommen: jenen von Prof. Dr. Carl Stumpf und Dr. Erich M. von Hornbostel. Spätestens seit 1918 bestand auch persönlicher Kontakt.2 So griff er in den ersten Jahren seiner Anstellung auch auf deren Methoden zurück, z. B. auf Tonhöhenmessungen nach dem Tonometer oder auf den Transkriptionsstandard nach Hornbostel und Dr. Otto Abraham.3 Nach seiner Dissertation im Fach Psychologie bei Prof. Dr. Götz Martius in Kiel 19204 entwickelte er allmählich eigene Methoden und Thesen, die er unter dem Begriff ‚Biomusikologie‘ zusammenfasste und für die er eine spezifische, der Phonetik entlehnte Terminologie anwandte.5 Diese ist gekennzeichnet durch die Prämisse, dass Musik zuallererst Bewegung sei und dass es biologisch notwendige Eigenarten gäbe, wie sich ein Mensch musikalisch artikuliert (s. Abb. 2). Angelehnt an die sogenannte ‚Rutzsche Typenlehre‘6 suchte er selbst nach biologisch typischen musikalischen Ausdrucksmerkmalen von Individuen, Völkern oder „Rassen“.7 Sein empirisch-induktives Vorgehen mit dem Ziel, universelle Gesetze aufzustellen, war charakteristisch für die gesamte Vergleichende Musikwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde jedoch zuweilen auch eben dort problematisiert.8 Die stetige Betonung der allgemeinen Zuverlässigkeit und Aussagekraft der Ergebnisse „exakter naturwissenschaftlicher“ Methoden und „planmäßiger Experimente“ diente Heinitz auch als Legitimierungsstrategie für seine noch nicht etablierten Methoden.9

Abbildung 2: Endbewegungsphasen eines 2. Taktschlages (3/4-Takt) unterschiedlicher Werke, aus: Vox 21/1 (1935) , S. 71
Disziplinäre Resonanz: Heinitz’ Publikationen im Licht seiner Rezensenten

Schon im Jahr seiner Anstellung als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter am Phonetischen Laboratorium begann Heinitz in wissenschaftlichen Zeitschriften zu publizieren.10 Bis zu ihrer Einstellung 1936 veröffentliche er regelmäßig Artikel in der vom Phonetischen Laboratorium herausgegebenen Zeitschrift Vox, die sich als Zeitschrift für experimentelle Phonetik verstand. Nach seiner Dissertation veröffentlichte er außerdem zunehmend in musikwissenschaftlichen Fachzeitschriften.11

Seine Publikationen wurden äußerst ambivalent beurteilt. Exemplarisch lässt sich dies an der Resonanz, die seine Habilitationsschrift hervorrief, veranschaulichen. Während Prof. Dr. Robert Lach Heinitz’ Habilitationsschrift Strukturprobleme in primitiver Musik als „ein Musterbeispiel echter deutscher wissenschaftlicher Akribie und Solidität“ und „ein förmliches Kompendium der vergleichend-musikwissenschaftlichen Arbeitstechnik und -methode“ beurteilte,12 kritisierte Dr. Georg Herzog, zunächst Assistent von Stumpf und Hornbostel und später Schüler Prof. Dr. Franz Boas’, einen Mangel an geschichtlicher Perspektive und kulturellem Setting. Er beurteilte ferner die Methodik als dem komplexen Gegenstand nicht angemessenen und unausgereift.13 Hornbostel selbst hatte seinerzeit die Methoden in Heinitz’ erstem Habilitationsentwurf (1924) ebenfalls als zu statistisch und zu unergiebig kritisiert.14

In einem recht kurz gehaltenen Nachruf beschrieb Prof. Dr. Walther Vetter, der von 1929 bis 1934 ebenfalls in Hamburg Lehrbeauftragter war, Heinitz als „sich rastlos mühenden Forscher“, als „problematischen Charakter“. Andererseits hielt er ihm zugute, sich bewusst nicht abgekapselt zu haben.15

Heinitz’ Biomusikologie im „Dritten Reich“

1934 wurde am Phonetischen Laboratorium die Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft gegründet, deren erster und einziger Leiter Heinitz blieb.16 In Berlin waren Vergleichende Musikwissenschaftler wie Hornbostel, Dr. Curt Sachs und Dr. Robert Lachmann schon als Juden oder sogenannte „Halbjuden“ von den Nationalsozialisten entlassen und emigriert. Heinitz’ Position im nationalsozialistischen Deutschland war von Ambivalenzen geprägt. Zum einen lässt sich feststellen, dass er ab 1938 vermehrt zum Thema Musik und Rasse publizierte.17 Aufgrund seiner biologischen Perspektive, seiner an Rutz und Sievers orientierten Typenlehre und seines Universalitätsanspruchs hatte seine Forschung durchaus eine Schnittmenge mit der NS-Rassenideologie. Schon 1928 betonte Heinitz die große Bedeutung der Völkerpsychologie, die jedoch biologisch fundiert werden müsse, um „in die biologische Notwendigkeit eines bestimmten musikalischen Falles eindringen zu können“.18 Zum anderen wurde er vom Regime als ideologisch nicht einwandfrei beurteilt. Beispielsweise wurde ihm seine kurze, aber erst nach Januar 1933 beendete Mitgliedschaft in der Johannisloge bis 1945 immer wieder angelastet.19 Zudem promovierte er 1938 den polnischen Juden Rafael Broches,20 der noch im selben Jahr deportiert und vermutlich 1941 im KZ ermordet wurde.21

Universalitätsanspruch und Konflikte: Heinitz’ Kongressteilnahmen

Obgleich Heinitz selbst nie einen Kongress in Hamburg ausgerichtet hat, nahm er an einer Vielzahl von Kongressen teil. Die diversen Kongressteilnahmen zeugen von seinen regen Unternehmungen, seine Forschungen in der Disziplin und darüber hinaus bekannt zu machen. Er besuchte sowohl Kongresse mit musikgeschichtlichen Themenschwerpunkten, als auch allgemein musikwissenschaftliche, phonetische und anthropologische.22 Zwei Beispiele veranschaulichen sein engagiertes wie streitbares Auftreten.

Im März 1932 nahm Heinitz am Kairoer Kongress für arabische Musik teil. Unter der Schirmherrschaft von König Fuad I. wurde auf dem internationalen Kongress zwei Wochen lang in verschiedenen Sektionen über Geschichte und Gegenwart der arabischen Musik diskutiert. Neben einer Vielzahl von arabischen Gelehrten, Komponisten und Poeten waren auch mehrere europäische Musikwissenschaftler zu dem Kongress eingeladen, „in order to discuss all that was required to make the music civilized, and to teach it and rebuild it on acknowledged scientific principles“, wie es im Kongressbericht heißt.23 Neben Sachs, der auch an der Organisation beteiligt war, nahmen auch Hornbostel, Lachmann, Prof. Dr. Johannes Wolf und Paul Hindemith teil. Partizipiert hat Heinitz zum einen an der „Sektion für Musikinstrumente“, zum anderen an der „Sektion für Aufnahmeangelegenheiten“, welche einzelne Stücke der angereisten Ensembles auswählte, um von ihnen Tonaufnahmen anzufertigen. Ein Ergebnis dieser Arbeit ist die nahezu vollständige Sammlung der Tonaufnahmen des Kongresses, die nachträglich an die Forschungsabteilung gesandt wurden und auch heute noch im Institut zugänglich sind (s. Beitrag zur „Sammlung ethnographischer Tonträger“). In der Diskussion trat Heinitz zusätzlich für eine filmische Dokumentation der Aufführungen ein, die jedoch nicht realisiert wurde.24 Diese hätten auch seiner angestrebten biomusikologischen Untersuchung genutzt, zu der er jedoch im Nachhinein nichts veröffentlichte – letztendlich erschienen aus der Feder Heinitz’ lediglich kurze Kongressberichte.25

Nicht zuletzt zeigte sich Heinitz’ konfliktreiche Position innerhalb der Disziplin auf dem ersten internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung 1950 in Lüneburg. Mit Prof. Dr. Friedrich Blume und Prof. Dr. Hans Engel waren zwei seiner schärfsten Kritiker an der Organisation beteiligt.26 Heinitz referierte über die „biologischen Grundlagen der musikalischen Werkkunde“.27 Engel, der Heinitz’ Homogenitätslehre laut einem anonymen Bericht im Spiegel schon zwei Jahre zuvor verrissen hatte, sprach in einer hitzigen Diskussion von „bedauerlicher Unwissenschaftlichkeit“ der aufgestellten Thesen und einem Affront gegenüber ausländischer Kollegen.28 Der Abdruck seines Referats im Kongressbericht wurde von der Redaktion wegen antisemitischer Tendenzen abgelehnt, wogegen Heinitz erwog, gerichtlich vorzugehen.29 In einem offenen Brief an die „musikwissenschaftliche Kollegenschaft“ rechtfertigte Heinitz seine referierten Methoden, aus denen sich „unter Umständen (wie hier) ein Bild der Reinheit rassischer Typologie ergibt, wie es bei dem unendlichen Durcheinander und der vielfachen Verwässerung anderer, z. T. ideologisch erdichteten und tendenziös fehlbewerteten Rasseeigenschaften (auch in dem weiten Gebiet der Vergleichenden Mw.) wohl nur selten gefunden werden dürfte.“30

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Trotz der regen und intensiven Bemühungen gelang es Heinitz kaum, seine ‚Biomusikologie‘ in der Musikwissenschaft zu etablieren. Der Forschungsbereich Musik und Bewegung hat heute in der Musikwissenschaft durchaus eine große Relevanz erlangt, ebenso wie Performance-fokussierte Analysen von Musik.31 Diese Forschung findet jedoch größtenteils unter gänzlich anderen Prämissen als denen von Heinitz statt. Sein Einfluss auf das musikwissenschaftliche Institut ist eher struktureller Art: Durch seine Forschung und Lehre etablierte Heinitz den Forschungsbereich der Vergleichenden Musikwissenschaft, der durch Prof. Dr. Heinrich Husmann, der 1949 die Leitung des musikwissenschaftlichen Instituts übernahm, mit anderen Schwerpunkten methodisch wie thematisch erweitert fortgeführt wurde.32

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Wie alles begann – Die Anfänge der Hamburger Musikwissenschaft

Von Katharina Holz

Der folgende Text nimmt Sie mit auf die Entwicklungsreise der Musikwissenschaft in Hamburg. Diese Reise verlief keineswegs geradlinig. Sie dauerte rund 40 Jahre, bevor sie in der Gründung des Musikwissenschaftlichen Instituts im Jahr 1949 ein erstes Ziel erreichte. Auf dem Weg dorthin waren verschiedene Stationen von besonderer Bedeutung. Begonnen werden muss beim Hamburger Kolonialinstitut, welches bereits rund 10 Jahre vor der Universitätsgründung 1919 bestand. An diesem Institut entstand 1910 das Phonetische Laboratorium, wo neben der Sprachforschung auch Klangforschung betrieben wurde. Später beinhaltete das Laboratorium sogar eine separate Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft. Seit Universitätsgründung gab es musikalische Übungen, aus denen schließlich das Universitäts-Musikinstitut hervorging, welches im Jahr 1947 mit der Forschungsabteilung zusammengefasst wurde. Zwei Jahre später, im Jahr 1949 wurde dann das Musikwissenschaftliche Institut an der Universität Hamburg gegründet. Diese Stationen auf dem Weg zur Institutionalisierung der Musikwissenschaft in Hamburg werden in den nächsten Abschnitten genauer beleuchtet. Kommen Sie also mit auf die Reise der Hamburger Musikwissenschaft und entdecken Sie, wie alles begann!

Die Zeit vor der Universität in Hamburg: Kolonialinstitut und Allgemeines Vorlesungswesen

Mitte des 18. Jahrhunderts begannen im Deutschen Reich Kolonisierungsbestrebungen. Den anderen Kolonialmächten nacheifernd, hatte das Deutsche Reich Anfang des 19. Jahrhunderts zahlreiche Kolonien.1 Mit der wachsenden Bedeutung der Kolonien wuchs auch der Wunsch nach einer besseren Ausbildung der Kolonialbeamten.2 Bernhard Dernburg, Staatssekretär des Reichskolonialamts, informierte den damaligen Bürgermeister Hamburgs, Dr. Johann Heinrich Burchard, im April 1907 darüber, „dass es in der Absicht des Reiches läge, für die kolonialen Wissenschaften einen Lehrstuhl […] mit ordentlichen Professuren zu errichten.“3 Der Hamburger Ethnologe Georg Thilenius verhandelte erfolgreich mit Dernburg, welcher in einem Schreiben an den Senat betonte, Hamburg sei „der geeignete Platz für die Vorbildung von Privatpersonen wie Beamten für eine Tätigkeit in den Kolonien.“4

Am 6. April 1908 wurde die Errichtung eines Kolonialinstituts in Hamburg vom Senat in Übereinstimmung mit der Bürgerschaft beschlossen und als Gesetz verkündet.5 In den folgenden Jahren wurden im Hamburger Kolonialinstitut Kolonialbeamte, Kaufleute, Landwirte und Missionare ausgebildet. Auf dem Lehrplan standen neben praxisorientierten Themen (Tropenhygiene, Tierzucht, Segeln) die Landes- und Völkerkunde, Missionskunde, Naturwissenschaften, Geschichte, Rechts- und Staatswissenschaft sowie Sprachkurse.6 Kurse zum Thema Musik sucht man auf dem Lehrplan des Kolonialinstituts vergeblich. Dennoch ist es eine wichtige Stufe auf dem Weg zur Institutionalisierung der Musikwissenschaft in Hamburg. Denn der Afrikanist Professor Carl Meinhof, der das Seminar für Kolonialsprachen leitete, forderte die Einrichtung einer phonetischen Forschungsabteilung, um die Sprachen und Laute der kolonialen Völker besser erforschen zu können. Damit war der Grundstein für das Phonetische Laboratorium gelegt, welches 1910 gegründet wurde und seinerseits als ein Entstehungsort der Musikwissenschaft in Hamburg gelten kann.7

Gleichzeitig mit den Kursen des Kolonialinstituts wurden im Rahmen des Allgemeinen Vorlesungswesens vereinzelt Vorlesungen zum Thema Musik gehalten. Doch diese waren inhaltlich sehr begrenzt. In den Jahren 1908–1919 gab es lediglich Vorlesungen zu verschiedenen Werken von Richard Wagner.8 Während des ersten Weltkriegs nahmen die Studenten- und Dozentenzahlen dann drastisch ab. Schließlich verlor das Kolonialinstitut nach dem Krieg und der Auflösung der Kolonien gänzlich seine Bedeutung. Die verbliebenen Lehrveranstaltungen, Studenten und Dozenten des Kolonialinstituts wurden in die 1919 gegründete Universität Hamburgs eingegliedert.9

Das Phonetische Laboratorium
Abbildung 1: Giulio Panconcelli-Calzia bei der Aufzeichnung des Kehltons mit dem Kymographen.

Am 1. Oktober 1910, nur ein Jahr nach Meinhofs Ernennung zum Professor, nahm das Phonetische Laboratorium seine Arbeit unter der Leitung von Dr. Giulio Panconcelli-Calzia auf (s. Abb. 1).10 Dieser war zuvor Leiter des Phonetischen Kabinetts in Marburg gewesen und verfügte sowohl über Erfahrung als auch über Tatkraft.11

Im Hamburger Phonetischen Laboratorium wurden im Folgenden mit diversen Apparaturen Lautstärken, Lautformen, Sprachklänge und Schallschwingungen aufgezeichnet. Außerdem befasste sich das Labor mit den physischen Vorgängen beim Sprechen. Für Menschen mit Stimm- oder Sprachfehlern war eine Stimm- und Sprechberatungsstelle eingerichtet.12 Auch musikalische Themen, vor allem im Hinblick auf die überseeischen Kolonialvölker, rückten ins Blickfeld.

Panconcelli-Calzia selbst hielt neben seinen Forschungstätigkeiten zahlreiche Kurse, beispielsweise eine Einführung in die allgemeine Phonetik, ein phonetisches Praktikum und eine Übung zum selbstständigen phonetischen Arbeiten. Spezielle Berücksichtigung fanden dabei die afrikanischen Sprachen.13 Ab dem Wintersemester 1916/17 unterstützte Wilhelm Heinitz (s. Beitrag zu Heinitz’ „Etablierung eines neuen Forschungszweiges“) die phonetischen Praktika, die Panconcelli-Calzia anbot.14 Heinitz begann als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Phonetischen Laboratorium, war ab 1930 als Privatdozent und ab 1933 als Professor tätig.15 Er beschäftigte sich während seiner Tätigkeit vermehrt und später ausschließlich mit der Vergleichenden Musikwissenschaft. Diese untersucht Musik, Gesänge und Tonträger verschiedener Völker und Länder und stellt zu ethnographischen Zwecken Vergleiche an.16 Das Phonetische Laboratorium verfügte so bald über eine eigene Schallplattensammlung, welche dem Zweck diente, Sprache und Musik fremder Völker zu erforschen.17

Der erste Weltkrieg veränderte den Arbeitsalltag des Labors drastisch. Hatte die kurative Behandlung von Sprachstörungen zuvor nur einen geringen Anteil eingenommen, so beschäftigten sich Panconcelli-Calzia und seine Mitarbeiter nun verstärkt mit der Sprachheilbehandlung kriegsgeschädigter Soldaten.18 1916 entstand sogar eine Außenstelle des Phonetischen Laboratoriums auf dem Gelände eines Hamburger Krankenhauses. Dort behandelten Phonetiker und Ärzte gemeinsam die durch den Krieg verursachten Sprach-, Sprech- und Hörstörungen.19

Panconcelli-Calzia selbst geriet während des ersten Weltkrieges in den Verdacht, ein italienischer Spion zu sein und im Laboratorium „Abhorchmaschinen“ zu bauen und zu verwenden.20 In einem Brief an das Präsidium der Verkehrstechnischen Prüfungskommission trat Bürgermeister Werner von Melle für Panconcelli-Calzia ein und beschrieb ihn als deutschen Untertan und Hamburger Staatsbeamten, welcher entgegen der Vorwürfe kein italienischer Ingenieurs-Spion, sondern Philologe sei.21 Dank des Einsatzes von Werner von Melle wurde Panconcelli-Calzia entlastet und leitete das Phonetische Laboratorium bis 1949. Nach beinahe 40 Jahren Dienst übergab er die Leitung und seinen Lehrstuhl für Phonetik an seinen Schüler Dr. Otto von Essen.22

Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft

Im Oktober 1934 stellte der Leiter des Phonetischen Laboratoriums Panconcelli-Calzia bei der Landesunterrichtsbehörde den Antrag, das Seminar für Vergleichende Musikwissenschaft offiziell zu verselbstständigen.23 Dem Antrag wurde entsprochen; die „Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft“ unter der Leitung von dem mittlerweile habilitierten Heinitz wurde eingerichtet.24 Nachstehend erhalten Sie einen Überblick über die Themen einiger Vorlesungen, die Heinitz ab 1920 in Hamburg hielt:25

• Die Entstehung der Instrumentalmusik und ihre Beziehungen zur Musik der Naturvölker

• Subjektive und objektive Bestimmung der Tonhöhenbewegung in der gesprochenen Sprache

• Vokalmusik bei Naturvölkern und Europäern

• Anwendung experimentalphonetischer Methoden auf die Vergleichende Musikwissenschaft

• Beurteilung musikalischer Linienführung

• Musikalische Akustik

• Skandinavische Volksmusik

• Musikalische Begabung

• Transkription der Musik anderer Völker

• Tonsysteme außereuropäischer Musikkulturen

Diese Auflistung gibt einen guten Überblick über die vielfältigen Themengebiete, in denen Heinitz nicht nur lehrte, sondern auch forschte. Schließlich wurde die Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft im Jahr 1947 auf Antrag Panconcelli-Calzias vom Phonetischen Laboratorium getrennt und an das ebenfalls 1934 entstandene Universitäts-Musik-Institut angegliedert.26

Das Universitäts-Musik-Institut – die Bedeutung der Musikwissenschaft nimmt zu

„An der Hamburgischen Universität ist mit Wirkung vom 1. November d. J. ein ‚Universitäts-Musik-Institut‘ errichtet worden.“27 Dieser Satz war im November 1934 im Hamburger Tageblatt zu lesen. Zuvor hatte Dr. Hans Hoffmann als Dozent für Musiktheorie und Musikpflege in begrenzten Räumlichkeiten und ohne eigenen Finanzetat gewirkt28 sowie den Studentenchor und das Studentenorchester geleitet.29 Hoffmanns Wunsch nach einem eigenen Seminarraum fügte der damalige Universitätsrektor Adolf Rein in einem Schreiben an die Landesunterrichtsbehörde die Bitte um eigene Finanzmittel hinzu.30 Wenig später genehmigte der Hamburger Senat die offizielle Gründung des ‚Universitäts-Musik-Instituts‘ unter der Leitung von Hoffmann.31

Das Musik-Institut beschäftigte sich mit Chor- und Instrumentalpraxis, vermittelte aber auch musikhistorische und musiktheoretische Inhalte. Die musikgeschichtlichen Vorlesungen konzentrierten sich dabei zumeist auf Frühbarock, Klassik und Moderne. Zur Musiktheorie hielt Hoffmann unter anderem Vorlesungen über Kontrapunkt, Kanon, Fuge und Generalbass. In der Zeit des nationalsozialistischen Regimes übernahm das Institut außerdem die Aufgabe, Singleiter der Schutzstaffel (SS) durch Volksliedübungen auszubilden. Auch Mannschaftssingen und Volksliedsingen für alle Studierenden standen auf dem Lehrplan.32

Sechs Jahre nach Gründung des Instituts erfolgte eine weitere richtungsweisende Veränderung. Das Universitäts-Musikinstitut wurde an die Philosophische Fakultät angegliedert.33 Bemerkenswert ist dabei das Schreiben des Rektors Wilhelm Gundert, welcher den Antrag begründete: „Es handelt sich dabei nur um eine Folgerung aus dem Umstand, dass die Musikwissenschaft nunmehr als gleichberechtigtes Fach in der Philosophischen Fakultät vertreten werden soll.“34 Gundert gab der Tätigkeit des Musik-Instituts als erster Funktionsträger den Titel „Musikwissenschaft“ und empfahl den Musikwissenschaftler Dr. Hans Joachim Therstappen als Leiter des Instituts. Damit begann die Bedeutung der Musikwissenschaft in Hamburg zu wachsen. Dem Antrag wurde am 21. März 1940 von der Staatsverwaltung zugestimmt – das Universitäts-Musik-Institut wurde unter der Leitung von Herrn Dr. Therstappen in die Philosophische Fakultät eingegliedert.35 Mit Therstappen hielten in den Folgejahren vermehrt musikhistorische Themen Einzug in den Universitätsalltag und diversifizierten die Musikwissenschaft in Hamburg weiter (s. Beitrag zu „Hans Joachim Therstappen“).36

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Durch den bereits erwähnten Zusammenschluss des Universitäts-Musik-Instituts mit der Forschungsabteilung für Vergleichende Musikwissenschaft 1947 entstand ein musikwissenschaftliches Institut, in dem sowohl historische als auch musiktheoretische, -soziologische und -psychologische Themen erforscht und gelehrt wurden. Die beschriebenen Institutionen und Personen trugen allesamt dazu bei, den Weg zur Institutionalisierung der Musikwissenschaft erfolgreich zu beenden. 1949 wurde dieses Ziel mit der offiziellen Gründung des Musikwissenschaftlichen Instituts in Hamburg erreicht.

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