Die Sammlung ethnographischer Tonträger: Historische Entwicklung – archivarische Aufgaben – digitale Perspektiven

Von Christian Koehn

Schallaufnahmen zählen zum wichtigsten Quellenmaterial der Musikethnologie.1 Allerdings wurde es erst durch die technische Errungenschaft der Schallaufzeichnung möglich, mündlich tradierte Wissensbestände, wie etwa Musik und Gesänge schriftloser Völker, zu bewahren und in Form von Schallarchiven der wissenschaftlichen Untersuchung zugängig zu machen.2 In Hamburg lässt sich das systematische Sammeln von Tonträgern zu wissenschaftlichen Zwecken bis in das Hamburgische Kolonialinstitut (1908–1919) zurückverfolgen. Die dort zusammengetragenen afrikanischen und arabischen Musikaufnahmen bilden heute den Kernbestand der Sammlung historischer ethnographischer Tonträger am musikwissenschaftlichen Institut. Die Entstehungsgeschichte dieser Sammlung soll im Folgenden kurz umrissen werden.

Das Hamburgische Kolonialinstitut (1908–1919)

Das Hamburgische Kolonialinstitut wurde 1908 als erste staatliche Hochschule Hamburgs gegründet (s. Beitrag zu „Die Anfänge der Hamburger Musikwissenschaft“). Die wissenschaftliche Aufgabe des Kolonialinstituts bestand zunächst darin, die aus den deutschen Kolonien erbrachten Informationen und Objekte auszuwerten. Diese institutionelle Forschungstätigkeit diversifizierte sich bald (u. a. Orientalistik, Völkerkunde, Geographie, Zoologie, Botanik, zahlreiche verschiedene Regional- und Sprachwissenschaften). Das Lehrangebot fokussierte sich neben einem öffentlichen „allgemeinen Vorlesungswesen“ weitgehend auf ein zweisemestriges Kurrikulum zur Vorbereitung auf den gehobenen kolonialen Beamtendienst.3

Für Wissenschaft und koloniale Verwaltungsaufgaben gleichermaßen von Interesse war die Beschäftigung mit den jeweiligen einheimischen Sprachen. Im Jahr 1909 wurde daher eine Professur für afrikanische Sprachen geschaffen. Der Theologe und Afrikanist Dr. Carl Meinhof (1857–1944) wurde auf diesen Posten berufen und zum Direktor des Seminars für Kolonialsprachen ernannt.4 Im folgenden Jahr wurde dem Seminar das Phonetische Laboratorium, die weltweit erste institutionelle Einrichtung zur experimentellen Untersuchung der menschlichen Sprachlautformung, unter der Leitung von Dr. Giulio Panconcelli-Calzia (1878–1966) als eigenständige Forschungsabteilung angegliedert. Ab 1913 gab das Phonetische Laboratorium die Zeitschrift „Vox – Internationales Zentralblatt für experimentelle Phonetik“ heraus.5

Mit dem Verlust der deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg verlor das Kolonialinstitut die zentrale Aufgabe der Beamtenausbildung. Zahlreiche der wissenschaftlichen Einrichtungen, so auch das Phonetische Laboratorium, blieben jedoch bestehen. Mit der Gründung der Hamburgischen Universität im Jahr 1919 wurden die Seminare des Kolonialinstituts in die philosophische Fakultät integriert.6

Auf- und Ausbau der Sammlung

Im Jahr 1915 begann der gelernte Fagottist Wilhelm Heinitz (1883–1963) als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Phonetischen Laboratorium des Hamburgischen Kolonialinstituts. Früh erkannte Heinitz den Wert der noch relativ jungen Technik der mechanischen Schallaufzeichnung für die Sprachforschung, aber auch für musikalische Studien:7 Von Beginn an befasste sich der Musiker Heinitz mit Erscheinungen im Grenzbereich von Musik und Sprache. Dabei untersuchte er beispielsweise afrikanische Trommelsprachen eingehend.8 Hierzu beschaffte Heinitz entsprechende Schallaufnahmen und nutzte die seinerzeit hochmoderne naturwissenschaftlich-technische Ausstattung des Laboratoriums zu tonometrischen Messungen – die technischen Apparate befinden sich heute in der Sammlung des Instituts für Akustik und Sprachkommunikation der TU Dresden.

Auch nachdem Heinitz 1920 promoviert worden war, setzte er seine Tätigkeit am Phonetischen Laboratorium fort. Sein Forschungsinteresse wandte sich immer gezielter der außereuropäischen Musik zu. In den folgenden Jahren erweiterte Heinitz die Tonträgersammlung des Phonetischen Laboratoriums um zahlreiche Aufnahmen hauptsächlich afrikanischer und arabischer Musik. Im November 1948 schied er schließlich aus dem Hochschuldienst aus. Die Bestände der einst am Kolonialinstitut begonnenen Tonträgersammlung wurden in der Folge in die Bibliothek des 1949 gegründeten musikwissenschaftlichen Instituts überführt.

Heutiger Umfang der Sammlung

Heute sind in der Sammlung 654 Tonträger – Schellackplatten, Acetat- und Metallfolienschnitte – mit insgesamt etwa 2.600 Einzelaufnahmen erhalten. Die Aufnahmen umfassen Musik und Gesang aus fast allen Teilen der Welt. Einen Schwerpunkt der Sammlung bilden Aufnahmen aus Afrika

und der arabischen Welt
. Hierzu zählt etwa ein vollständiger Satz der 162 Schallplatten, die The Gramophone Company anlässlich des Kairoer Kongresses für arabische Musik im Jahr 1932 veröffentlicht hat (s. Beitrag zu Heinitz’ „Etablierung eines neuen Forschungszweiges“). Ferner finden sich u. a. historische Aufnahmen aus Indien, Japan
, Zentral- und Südostasien, sowie Aufnahmen europäischer Volksmusik
.

Zahlreiche der Tonträger stammen von kommerziellen Schallplattenverlagen wie etwa Odeon und Parlophon-Lindström. Diese hatten früh die Kolonialgebiete als Absatzmärkte für ihre Erzeugnisse entdeckt und dort bereits während der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts ein Händlernetz etabliert. Diese überaus seltenen Aufnahmen sind für die heutige Musikwissenschaft von besonderem Interesse. Im Gegensatz zu den von europäischen Forschern erstellten Feldaufnahmen wurde hier die Auswahl der aufgenommenen Musiker i. d. R. von einheimischen Experten vorgenommen. Diese Schallplatten spiegeln mithin die lokalen Präferenzen in der Musikrezeption der entsprechenden Region und der jeweiligen Entstehungszeit wider.

In den Jahrzehnten nach der Gründung des musikwissenschaftlichen Instituts wurde die Sammlung außereuropäischer Musik durch zahlreiche Feldaufnahmen von Professoren, Mitarbeitern und Studierenden weiter ergänzt. Hierzu zählen so einzigartige Bestände wie beispielsweise 41 Tonbandspulen mit im Jahr 1955 von Dr. Hans Hickmann aufgezeichneten Feldaufnahmen ägyptischer Volksmusik,9 seltene Aufnahmen der Musik des sudanesischen Volks der Hadendoa,10 die ersten nach der Herrschaft der Khmer Rouge erstellten Aufnahmen des melismatischen smot-Gesangs buddhistischer Mönche in Kambodscha,11 Aufnahmen der Ritualmusik des brasilianischen Candomblé12 sowie die einzigen Tonaufnahmen der Gesänge des Ahnenkults der Seenomaden der östlichen Andamanensee.13

Systematisierung der Bestände: Das E.S.R.A.-Projekt

Im Rahmen des Projekts E.S.R.A. (Ethnographic Sound Recordings Archive) werden die historischen ethnographischen Tonträger des musikwissenschaftlichen Instituts seit Januar 2013 digitalisiert.14 Die Erstellung der Digitalisate erfolgt hierbei nach international etablierten Richtlinien, um ein Höchstmaß an Interoperabilität im Rahmen möglicher zukünftiger Standardisierungen zu gewährleisten.15 Auf der Grundlage von am Institut für Systematische Musikwissenschaft im Laufe der vergangenen zehn Jahre durchgeführter Forschungsarbeit wird zudem eine für die Verwaltung von Digitalisaten historischer ethnographischer Tonträger optimierte Datenbank-Infrastruktur entwickelt. Hierbei kommen insbesondere neuartige Verfahren der Datenextraktion unter Verwendung spezialisierter Methoden der digitalen Signalverarbeitung (Music Information Retrival) zur Anwendung, um computergestützte Zugangsmodalitäten zu großen Audiodaten-Beständen in kontextualisierter und semantisch integrierter Form zu ermöglichen. Die vor über einem Jahrhundert begonnene Sammlung ethnographischer Tonträger wird so einem breiten Nutzerkreis in digitaler Form zugänglich gemacht.

Zurück zum Inhaltsverzeichnis Ausstattung und Arbeitsbedingungen

Testeintrag mit Pluginbeispielen

Bild und Ton

Bilder lassen sich einfach über den Medienbrowser („Dateien hinzufügen“) einbinden. Dort kann man bereits einige Einstellungen zur Größe des Bilds vornehmen. Wenn das Bild eingebunden ist, besteht im Editor noch die Möglichkeit, die Ausrichtung anzupassen (einfach per Klick auf das Bild).

 Tonbeispiele können über einen Miniplayer eingebunden werden, sodass nur die kleinen Buttons (statt zeilenlanger Player) angezeigt werden. Die Dokumentation zur Ansicht der Codes finden Sie hier. Es ist notwendig,
dass die Audiodateien zunächst über den Medienbrowser
hochgeladen werden, um dann später auf sie verlinken zu können.

 
Hier folgt noch mehr Text